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Karzai: "Ich dachte, die Amerikaner hätten Prinzipien und Werte"

Von WZ-Korrespondentin Andrea Jeska

Politik

Afghanistans Ex-Präsident Hamid Karzai im Interview über die Verhandlungen mit den Taliban, die geopolitischen Interessen der USA in der Region und seine Vision von Frieden im Land.


Nach der jüngsten Eskalation zwischen den USA und dem Iran fürchtet auch das Nachbarland Afghanistan eine Zunahme der Gewalt in der Region. Dabei sucht die Regierung des Landes, in dem derzeit rund 12.000 US-Soldaten stationiert sind, seit einem Jahr verstärkt den Dialog mit den Taliban, mit denen die USA schon seit Juli 2018 über eine politische Lösung im nun schon mehr als 18 Jahre dauernden Konflikt verhandeln. Zuletzt kam dieser Prozess vergangenen September nach einem schweren Taliban-Anschlag in Kabul ins Stocken.

Afghanistans Ex-Präsident Hamid Karzai (seine Amtszeit dauerte von 2001 bis 2014) erläutert im Interview, welche Chancen er Friedensgesprächen mit den Taliban einräumt, welche ideologische Veränderung er bei ihnen wahrnimmt und warum er die USA, deren größter Fan er einst laut eigener Aussage war, heute als Plage für Afghanistan sieht.

"Wiener Zeitung": Herr Karzai, auch fünf Jahre nach dem Ende Ihrer Zeit als Präsident sind Sie noch sehr präsent auf der internationalen politischen Bühne. Müssen Sie das?

Hamid Karzai: In der Tat. Mein Ziel, dass Afghanistan Frieden findet und die Menschen hier wieder ein normales Leben führen können, ist noch nicht erreicht. Ohne Engagement wird das auch nicht passieren. Wenn Ihr Land so leiden würde wie unseres, wären Sie dann still?

Die USA wollen ihre Truppen abziehen und verhandeln mit den Taliban über einen Friedensvertrag und Regierungsbeteiligung. Was ist Ihre Rolle in diesen Gesprächen.

Ich und meine Mitstreiter sind das Bindeglied zwischen den Taliban und der Delegation afghanischer Politiker und anderer Akteure. Trotz all der Differenzen, die ich mit den Amerikanern hatte, trotz meines steten Widerstands gegen diesen Krieg, den sie in unserem Land führen, sind wir bei dieser Initiative auf ihrer Seite. Weil wir endlich Frieden wollen.

Bisher sind ja weder die afghanische Regierung noch das afghanische Volk an diesen Friedensgesprächen beteiligt. Die Amerikaner verhandeln mit den Taliban. Finden Sie das nicht seltsam, wenn das so über ihren Kopf hinweg passiert?

Genau darin sehe ich meine Aufgabe: dafür zu sorgen, dass es so schnell wie möglich ein interner Prozess in Afghanistan, von Afghanen wird, ein inter-afghanischer Dialog. Das ist es jetzt keinesfalls. Wir drängen Präsident Ashraf Ghani, sich schnellstmöglich zu beteiligen.

Will er ja, aber die Taliban nicht. Sie erkennen die afghanische Regierung doch gar nicht an.

Doch, sie wollten, aber die Chance wurde in Moskau vertan. Der Präsident und ich haben damals beschlossen, dass die Regierung eine Delegation schicken sollte, wir haben diese sorgfältig ausgewählt. Doch sobald die Gespräche in Moskau mit den Taliban begonnen hatten, erklärten die afghanische Regierung, die Mitglieder der Delegation würden sie nicht repräsentieren. Das war so fatal, danach war kein Dialog mehr möglich.

Und was ist Ihre Erklärung dafür?

Ich habe keine Ahnung. Danach haben wir uns entschlossen, erst einmal ohne die Regierung zu verhandeln, von Afghane zu Afghane, um das Eis zu brechen und den inter-afghanischen Dialog zu starten. Der Kreml war zweimal Gastgeber, und es waren wegweisende Treffen, die wir dort hatten. Das sollte in Zukunft das Format der Gespräche sein.

Welchen Einfluss können Sie in diesen Gesprächen nehmen?

Ich möchte, dass der Friedensprozess ehrlich und aufrichtig ist. Die Amerikaner haben eigene Interessen in Afghanistan und in dieser Region. Deshalb sind sie hier. Nicht, um Extremismus und Terrorismus zu bekämpfen. Damit haben sie lediglich ihren Einmarsch in Afghanistan begründet. Aber damals haben wir noch gedacht, sie kämen, um uns zu helfen. Heute wissen wir: So ist es nicht.

Sondern?

Es sind geostrategische Gründe. Sie haben größere globale Ziele, und es geht um Machtrivalitäten in dieser Region. Wir sind ein zu armes, ein zu heruntergekommenes Land, um den USA etwas entgegenzusetzen. Aber wir können uns beschweren und alles tun, um sie davon abzuhalten, unserem Land für ihre Zwecke zu schaden. Deshalb sagen wir: Ja, wir begrüßen den Friedensprozess, was auch immer die Amerikaner damit bezwecken. Aber wir sagen auch: Verhandelt so, dass ein Frieden den Afghanen dient und nicht euch, dass er nicht weiteres Leid für uns bringt.

Wie sollte dieser Frieden denn Ihrer Ansicht nach aussehen?

So, dass unsere Kinder wieder durch die Straßen laufen, zur Schule gehen, studieren, wir alle wieder ein normales, ein ganz alltägliches Leben haben können, so wie in anderen Ländern auch. Kein Leid, kein Tod, keine Bomben.

Zu welchen Zugeständnissen sind die Taliban bereit?

Sie verstehen, dass es bestimmte Freiheiten in unserem Leben gibt, die wir nicht aufgeben werden. Menschenrechte und Frauenrechte zum Beispiel. Ich will, dass meine Töchter in Afghanistan aufwachsen können, dass sie hier zur Schule gehen können, ich will, dass sie die beste Bildung bekommen, die es gibt. Sie sollen ihre Meinung sagen und ihre eigenen Entscheidungen treffen können, sie sollen ihr Leben so führen, wie sie es möchten.

Und Sie glauben, das lassen die Taliban zu?

Ja, sie verstehen, dass sie nicht mehr so vorgehen können wie zur Zeit ihrer Herrschaft.

Aber haben sie denn ihre Ideologie geändert?

Das haben sie. Sie haben auch gelitten, ihre Kinder haben gelitten. Wir teilen denselben Schmerz. Wir haben über all diese Dinge in Moskau gesprochen. Auch über unsere Zweifel und über unsere rote Linie, was prinzipielle Dinge angeht. Wir haben gesagt, es gibt keinen Kompromisse in den fundamentalen Rechten. Und sie respektieren das.

Sie glauben also, Sie können diese Nation einen und wieder aufbauen auf dem Prinzip der gemeinsamen Leidenserfahrung?

Ja, da bin ich ganz sicher.

Aber wenn die Taliban Frieden wollen, warum setzen sie dann ihre Angriffe fort? Am 2. September, nach der achten Runde der Friedensgespräche, gab es einen Anschlag in Kabul und während der neunten Runde einen auf die US-Militärbasis in Bagram sowie einen, bei dem drei Kinder getötet wurden. Verfolgen der politische und der militärische Flügel der Taliban unterschiedliche Ziele?

Aber alle setzen doch ihre Angriffe fort! Die Amerikaner reden die ganze Zeit von einem Waffenstillstand, doch ihre Bombardements der vergangenen Monate waren die schlimmsten, die wir je erlebten. Sie warfen hunderte Bomben auf unser Land, es waren die intensivsten militärischen Operationen überhaupt. Die Menschen hier litten furchtbar. Und auch die afghanische Regierung hat ihre Angriffe nicht eingestellt. Alle Seiten sollten das lassen.

WZ-Korrespondentin Andrea Jeska mit Hamid Karzai.
© Mohsin Khan Mohmand

Nach Frieden klingt das keinesfalls. Eher noch immer nach blutigem Krieg. Wie lange wird denn der Weg von hier an noch sein? Reden wir hier über Jahre oder über Jahrzehnte?

Es ist ein blutiger Krieg, ein verdammt blutiger Krieg. Wie lange? Wir wissen es nicht. Wenn man leidet, hat man es immer eilig, auch wenn es noch Ewigkeiten dauern wird. Und wir leiden. Wir wissen, wer uns das Leiden brachte: Es sind die USA und Pakistan. Sie sind seit Jahrzehnten die Ursache für den Krieg in Afghanistan. Und wir wollen nicht weiter für ihre Ziele leiden.

Aber dienen die Friedensgespräche, die Sie so unterstützen, nicht auch in erster Linie den Zielen der USA?

Ja, das tun sie. Und dennoch stehen wir an ihrer Seite, damit es einen Anfang für den Frieden gibt, egal wie klein dieser auch sein mag.

Sie müssen eine sehr verzweifelte Nation sein, wenn Sie bereit sind, sowohl mit den Taliban als auch mit den Amerikanern auf niedrigstem Niveau zu verhandeln.

Wir sind eine verzweifelte Nation, eine sehr, sehr verzweifelte. Und das bringt uns dazu, Dinge zu akzeptieren, die wir unter normalen Umständen für vollkommen inakzeptabel hielten. Wir versuchen, uns hier von einer Plage zu befreien.

Die Plage sind die Amerikaner?

Die und der Krieg, ja.

Sie klingen sehr bitter, wenn Sie von den USA und deren Engagement in Afghanistan sprechen. Dabei waren Sie anfangs für deren Krieg. Wann haben Sie Ihre Meinung geändert?

Oh, ziemlich bald. Anfangs dachte ich noch, sie kommen aus Freundschaft. Ich war ihr größter Fan. Ich dachte, die Amerikaner hätten Prinzipien und Werte, Demokratie und Menschenrechte. Ich dachte, Freiheit bedeute ihnen tatsächlich etwas. Und die US-Bürger glauben auch wirklich an all das, ich habe viele Freunde dort. Aber die Regierung, gegen die habe ich große Vorbehalte. Haben Sie die "Washington Post" gelesen? Wie die Regierung ihre eigenen Leute belogen hat? Wenn Politiker und Generäle fähig sind, das eigene Volk zu belügen, kann man sich doch ausmalen, wie oft sie uns belogen haben.

Sehen Sie in Ihrem Urteil einen Unterschied zwischen George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump?

Nein. Sie sind gleich, was uns anbelangt. Die Afghanen haben die Amerikaner von ganzem Herzen willkommen geheißen. Wir dachten, sie werden unser Leben verbessern. Und sie taten es, damals, 2001, nach der Bonn-Konferenz. Aber dann geschahen Dinge, die im Widerspruch zu ihren Versprechen standen: die nächtlichen Hausdurchsuchungen, die Bombardements, Tötungen, Folter, Erpressung etc. Ich habe versucht, das auf einer persönlichen Ebene zu klären. Ich habe sie gefragt: Warum tut ihr das?

Und welche Antwort haben Sie erhalten?

Die übliche: In den Häusern versteckten sich Taliban. 2010 zeigte ich Präsident Obama das Foto einer bitterarmen und unterernährten Familie aus Kunduz, die vollkommen verängstigt in einer Ecke hockte, und im Raum lag ein alter Mann auf dem Boden. Ein US-Soldat richtete seine Waffe auf ihn und trat mit dem Stiefel auf seine Hand. Es war ein schockierendes Foto. Ich fragte Präsident Obama: Ist es das, was ihr Amerikaner repräsentiert? Wollt ihr so den Krieg gegen Terror gewinnen? Er ist kaum darauf eingegangen. Da verstand ich, dass es keinen Sinn hat, sie freundlich zu bitten, ihr Benehmen zu ändern. Also begann ich, öffentlich über ihr Vorgehen zu sprechen. Da begannen sie mit ihren Einschüchterungen.

Gegen Sie?

Ja, auch gegen mich. Und gegen alle Leute auf dem Land, gegen die Armen, gegen Dorfbewohner. Sie taten alles, um ihr Aktionen zu vertuschen. Sie intensivierten die nächtlichen Haudurchsuchungen, die Bombardements, sie richteten Gefängnisse und Lager ein, sie heuerten private Söldner an, die unser Land noch unsicherer machten und gegen unsere Gesetze verstießen.

Wurden Sie persönlich bedroht?

Sie haben die Medien gegen mich benutzt. Als ich mich weigerte, den Amerikanern zu erlauben, unsere Felder mit Gift zu sprühen, um den Opiumanbau zu unterbinden, hat die "New York Times" mir unterstellt, Drogenhändler zu beschützen. Sie haben sogar meinen Bruder einen einflussreichen Drogenhändler genannt. Und als ich immer noch nein sagte, hat jemand von der Regierung mich angerufen und gesagt, das werde mich meine Wiederwahl kosten. Dann lass es so sein, habe ich gesagt.

Sie haben in verschiedenen Interviews behauptet, es gebe keinen Unterschied zwischen dem IS und den Amerikanern, die Amerikaner würden den IS brauchen und benutzen, um ihre Waffen zu testen. Sehen Sie das immer noch so?

Die Anwesenheit des IS in Afghanistan wirft viele Fragen auf. Er entstand in der Zeit der US-Präsenz und deren militärischer Operationen in unserem Land. Wie konnte dem IS das gelingen? Wer finanziert die Organisation, wer bildet sie aus? Das sind Fragen, die die USA beantworten müssen.

Sie haben in unserem Gespräch mehrfach sehr freundlich über die Gespräche in Moskau und die Unterstützung der russischen Regierung gesprochen. Wendet sich Afghanistan nun den Russen zu? Ist das Verhältnis zu den Amerikaner so zerrüttet, dass Sie neue Allianzen mit Russland bevorzugen würden?

Russland ist eine Supermacht und historisch unser Nachbar. Wir haben eine gute und enge Beziehung zu diesem Land. Die russische Einladung, den inter-afghanischen Dialog dort abzuhalten, war ein Durchbruch für künftigen Frieden und Stabilität in Afghanistan. Wir wollen auch gute Beziehungen mit den USA pflegen, wenn diese den Krieg beenden und Frieden bringen. Wir wollen, dass Afghanistan das Zentrum der Kooperation, nicht der Konfrontation zwischen den Weltmächten wird.

Wie stellen Sie und die Taliban und alle anderen an den Friedensgesprächen beteiligten Parteien sich den Umgang mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor? Der Internationale Strafgerichtshof ICC hat ja zunächst Bereitschaft gezeigt, diese zu untersuchen, dann aber einen Rückzieher gemacht.

Ja, das war eine große Enttäuschung für uns.

Können Sie sich erklären, warum der ICC nicht tätig werden will in Afghanistan? Begründet wurde die Ablehnung damit, dass weder die USA noch die Taliban noch die afghanischen Behörden kooperierten und Ermittlungen keine Aussicht auf Erfolg hätten.

Die Intention des ICC war, alle hier verübten Kriegsverbrechen zu untersuchen. Auch die der Regierung, auch die der Amerikaner. Jeder hat doch Kriegsverbrechen begangen, Massaker verübt, sinnlos getötet. Aber die Amerikaner haben Druck ausgeübt, so lange, bis der Gerichtshof davon Abstand nahm, Ermittlungen aufzunehmen.

2017 hatte der ICC noch dazu aufgefordert, Klagen einzureichen. 600 Klagen gingen ein, die eine halbe Million Opfer betrafen. Kann man Frieden schaffen, wenn den Opfern keine Gerechtigkeit widerfährt?

Schon unter meiner Regierung haben wir diskutiert, wie wir damit umgehen. Wir werden unsere eigenen Lösungen finden. Wir müssen Versöhnung suchen, keine Rache. Sonst wird es nie Frieden geben.

Eine schon praktizierte Lösung ist Amnestie für hochrangige Warlords. Ist das eine vernünftige Lösung?

Wir sind alle Brüder, wir sind alle Afghanen. Wir müssen wieder zueinanderfinden und die Vergangenheit hinter uns lassen.

Was passiert, wenn die Friedensgespräche scheitern und die US-Soldaten das Land verlassen?

Wenn die Amerikaner gehen wollen, dann sollen sie gehen. Eine Macht weniger, die uns Schmerz und Schaden zufügt. Es ist unser Land. Es ist unsere Verantwortung, wie die Zukunft aussieht. Wir müssen unser Leben jetzt wieder in die eigenen Hände nehmen.

Mitarbeit: Mohsin Khan Momand

Die Recherche wurde unterstützt mit einem Stipendium des Schweizer Vereins "real21 - die Welt verstehen".