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Europa ist in der Defensive

Von Michael Schmölzer aus München

Politik
© WZ-Illustration

International geben diejenigen den Ton an, die sich um Regeln nicht mehr kümmern.


Das alte Europa ist in der Defensive. Das wurde auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die am Freitag startete, deutlich. Viel ist hier die Rede von der Erosion der liberalen Demokratie, dem schrittweisen Absinken Europas in die Bedeutungslosigkeit und davon, dass man schon aus Gründen des Selbsterhalts wieder Flagge zeigen müsse.

Doch es sieht nicht gut aus: Denn noch nie gab es in Europa so viel Uneinigkeit darüber, wohin die Reise gehen soll. Das Modell der autoritären, illiberalen Demokratie, das so gar nicht mit den klassisch westlichen Werten der Vergangenheit vereinbar ist, bestimmt den Zeitgeist. Differenzen sind aufgebrochen und das schwächt. Dazu kommt, dass die EU mit dem Ausscheiden Großbritanniens sicherheitspolitisch einen massiven Aderlass verkraften muss. Der verbliebene Rest der EU ist verunsichert, während Asien weiter an Bedeutung gewinnt.

Die Zeiten des Kalten Krieges, als die Westeuropäer einträchtig mit den USA an einem Tisch saßen, den gemeinsamen Feind vor Augen, liegen in weiter Ferne. Was nichts daran ändert, dass immer noch die Mehrheit der Teilnehmer der Sicherheitskonferenz aus Europa kommt. Doch der globale Fokus hat sich verschoben, der Westen ist nicht länger das politische Maß der Dinge, nicht mehr das Epizentrum des Geschehens.

Steinmeier fordert mehr Mut

Die eindringlich vorgetragene Forderung, Europa müsse auf internationaler Ebene eine größere Bedeutung erlangen, zieht sich wie ein roter Faden durch das Treffen. Europa solle endlich lernen, die Sprache der Macht zu sprechen, plädiert etwa EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und meint damit ein Europa, das auf Offenheit, Freiheit und Liberalismus vertraut. Denn derzeit ist es so, dass die den Ton angeben, die mit diesen Werten nichts am Hut haben. Allen voran US-Präsident Donald Trump.

Deutschlands Präsident Frank-Walter Steinmeier übte deshalb in seiner Eröffnungsrede deutliche Kritik an dem unberechenbaren Mann im Weißen Haus. Die UNO, die ihr 75. Bestandsjubiläum feiere, sei gerade als Antwort auf die "Katastrophe des übersteigerten Nationalismus" gegründet worden. Mittlerweile habe sich eine "destruktive Dynamik" in der Weltpolitik Platz verschafft, die USA erteilten der Idee einer internationalen Staatengemeinschaft schlichtweg eine Absage, befand Steinmeier. Der Gedanke, dass Regeln für die Starken immer nur eine Option seien, schade allen, auch den Großen. Mittlere und kleine Mächte glaubten, ihre Konflikte selber ausfechten zu können, weil es die Großen mit den Regeln nicht mehr so genau nähmen, so das deutsche Staatsoberhaupt: Ein derartiges Denken "beraubt uns unserer Zukunft".

USA auf dem Rückzug

Wenn Abkommen einfach aufgekündigt würden, werde Vertrauen aufs Spiel gesetzt. Ein Vorgehen, das für Steinmeier "brandgefährlich" ist. So sei die Aufkündigung des Atomvertrags mit dem Iran durch Trump "ein Fehler". Dennoch warb Steinmeier um Zuversicht, die "enormen Herausforderungen" seien nicht mit einem "ängstlichen Herz" bewältigbar.

Als überzeugter Nationalist und Isolationist bläst Trump unterdessen zum Rückzug, wenn es um die militärische Präsenz der USA auf der internationalen Bühne geht. Ein starkes, selbstbestimmtes Amerika kann nicht in endlose Kriege verwickelt sein, lautet sein Credo, und endlos zieht sich der Konflikt in Afghanistan hin. 2001 sind die USA dort einmarschiert, und immer noch sterben GIs am Hindukusch.

Jetzt muss ein Schlusspunkt erzwungen werden, ein Friedensschluss mit den Taliban her - einer radikalislamistischen Sekte, mit denen kein Pakt zu schließen ist. Washington will nicht länger militärisch in Syrien mitmischen, auch hier sollen die GIs nach Hause. Trump nutzt das im Wahlkampf, wenn er vor Publikum die Wiedervereinigung einer Soldatenfamilie inszeniert: Die Frau, die ihren Soldatenehemann sieben Monate nicht gesehen hat, ist völlig überrascht und bricht in Tränen aus. Alles wird von dutzenden Kameras gut dokumentiert und in Millionen Wohnzimmer übertragen.

Fraglos hat Trump, seinen Grundsätzen folgend, die Nato, das militärische Rückgrat des Westens, geschwächt. Zunächst hat er das Verteidigungsbündnis überhaupt in Frage gestellt, um dann auf die unfaire finanzielle Lastenteilung hinzuweisen. Die europäischen Partner müssten mehr zahlen, heißt es aus Washington. Die Gerügten, allen voran Deutschland, verspüren großes Unbehagen und versuchen sich aus der Affäre zu ziehen. In Europa bekommt man es mit der Angst zu tun, will seine neue Rolle finden und auf eigenen Beinen stehen. Die Konzepte dafür sind nicht neu. Schon 2014 hat der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in München gefordert, dass Deutschland international mehr Verantwortung übernehmen müsse, auch auf militärischer Ebene.

Deutschland als Vermittler

Bei genauerem Hinsehen wird aber klar, dass sich Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einfach nicht als militärische Großmacht sehen will. Bei den Gedenkfeierlichkeiten anlässlich der Bombardierung Dresdens vor 75 Jahren wurde einmal mehr klar, dass sich Deutschland nicht in erster Linie als Militärmacht begreift und keinen Krieg mehr vom Zaun brechen wird, egal wo. In erster Linie sehe man sich als friedlicher Vermittler, betonte auch Steinmeier in seiner Münchner Rede.

Autoritär-nationalistische Tendenzen gefährden den Westen auch von innen, so die These der Veranstalter der Münchner Sicherheitskonferenz. Politologen sprechen davon, dass sich die gemeinsamen ideellen Grundlagen langsam auflösen. Umso deutlicher forderte Steinmeier, dass "dieses Europa nicht scheitern" dürfe.

In einer Diskussionsrunde mit dem kanadischen Premier Justin Trudeau und der norwegischen Premierministerin Erna Solberg meinte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, dass er eine Krise nicht unbedingt sehe. Die Welt sei eben vielfältiger geworden, so der Kanzler, es gebe mehr Spannungen innerhalb der EU und zwischen der EU und den USA. Auf die zunehmend autoritäre Situation in Ungarn angesprochen meinte er, dass Meinungsfreiheit und Rechtsstaat Grundwerte seien, die nicht verhandelbar seien. Allerdings solle man nicht immer nur auf die Defizite in der EU und den USA blicken. Hier befinde man sich immer noch in einer vergleichsweise privilegierten Situation.

Neues Wettrüsten

Abseits davon hat ein weltweites Wettrüsten mit immer neuen Superlativen begonnen. Steinmeier warnte in seiner Rede vor der Gefahr eines "Totrüstens": Der Thinktank IISS präsentierte anlässlich der Sicherheitskonferenz die neuesten Zahlen. Demnach war der Anstieg der Ausgaben für Rüstung 2019 im Vergleich zu 2018 so groß wie seit zehn Jahren nicht. Russland präsentierte erst vor wenigen Wochen neue Hyperschallraketen, die jeden amerikanischen Schutzschild hinfällig machen, wie Experten gegenüber der "Wiener Zeitung" bestätigten. Gleichzeitig investiert Trump enorme Summen in die Aufrüstung seines Landes. Für das Jahr 2020 sind hier 738 Milliarden Dollar vorgesehen. Den zweiten Platz bei den Rüstungsausgaben nimmt unangefochten China ein. Chinesische Unternehmen stellen laut Untersuchungen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri mehr Rüstungsgüter als die gesamte einschlägige russische Industrie her.

Stellt sich die Frage, wie groß die Gefahr ist, dass die Weltmächte in nächster Zeit militärisch aufeinanderprallen. Hier geben die Experten Entwarnung. Ein solches Szenario sei zwar nie ganz auszuschließen, aber doch sehr unwahrscheinlich. Die USA, Russland und China versuchen demnach, einen umfassenden Krieg zu vermeiden. Sie werden wohl auch in Zukunft auf die Strategien des limitierten Cyberkriegs und Desinformationskampagnen zurückgreifen.