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Die Kinder des Krieges

Von Gerhard Lechner

Politik

Am Samstag wollen die USA mit den Taliban ein Abkommen unterzeichnen, das ihnen den Abzug ermöglichen soll - und Afghanistan einen Weg in Richtung Frieden. Ob sich die Gotteskrieger dazu aber wirklich bereit finden, ist unklar.


Vor 20 Jahren noch löste der Name Taliban im Westen Schrecken und Abscheu aus. Die afghanischen Gotteskrieger, die Mitte der 1990er Jahre in Kabul die Macht an sich rissen, galten als Verkörperung von islamistischem Steinzeitfundamentalismus. In ihrem "Islamischen Emirat Afghanistan", das international nur von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten anerkannt wurde, etablierten sie einen strengen muslimischen Gottesstaat.

Männer mussten Bärte und Pluderhosen tragen. Frauen lebten quasi unter Hausarrest, wurden unter die Burka gezwungen und durften keine Universität oder Schule mehr besuchen. Die Taliban begingen außerdem systematische Massaker an der Zivilbevölkerung, etwa an der persischsprachigen Volksgruppe der Hazara, die als Schiiten ein besonderes Ziel der radikal-sunnitischen Talibanbewegung waren. Bis zu einer Million Menschen soll schätzungsweise in dieser Zeit vor den Gotteskriegern geflohen sein.

Die überraschende Rückkehr

Der Umstand, dass das Kalifat von Taliban-Führer Mullah Omar dem Terroristen Osama bin Laden Unterschlupf gewährte und ihm die Möglichkeit bot, unter anderem die Attacken des 11. September 2001 zu koordinieren, war dann für den Westen zuviel. Die USA schickten ihre Truppen nach Afghanistan, der Spuk der Gotteskrieger schien so rasch verschwunden, wie er Mitte der 1990er Jahre überraschend aufgetaucht war.

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Doch heute, mehr als 18 Jahre später, stecken die US-Amerikaner immer noch tief im afghanischen Sumpf. So tief, dass ihre Lage laut Beobachtern mit der der Sowjettruppen im Jahr 1988 vergleichbar ist. Die Sowjets wollten damals nichts als hinaus aus ihrem gescheiterten Afghanistan-Abenteuer, und zwar schnell. Politisch gewinnen konnten sie nichts mehr.

Ähnlich agieren heute die USA, die sich gezwungen sahen, sich mit den Taliban an einen Tisch zu setzen. Am Samstag, dem 29. Februar, soll ein Abkommen mit den erstarkten Rebellen, die weite Teile des Landes kontrollieren, unterzeichnet werden. Danach soll es innerafghanische Friedensgespräche unter Beteiligung der Taliban geben. Letztere sollten auch garantieren, dass Afghanistan nicht wieder ein Rückzugsort für Terroristen wird. Manche Vertreter der (einstigen?) Gotteskrieger zeigen sich heute von ihrer Zuckerseite, reden von einem Ende des Blutvergießens, vom Frieden und sogar von Frauenrechten (freilich im Rahmen islamischer Wertvorstellungen). Heißt das, dass am Hindukusch bald Frieden herrschen könnte?

Schwache Regierung

Langjährige Afghanistan-Kenner wie Conrad Schetter teilen diesen Optimismus nicht. "Wir haben auf der einen Seite erstarkende Taliban, auf der anderen eine Regierung, die kaum über Legitimation verfügt und das Land nicht kontrollieren kann", sagt der wissenschaftliche Direktor des deutschen Friedens- und Konfliktforschungsinstituts BICC. So fühlte sich etwa Oppositionsführer Abdullah Abdullah bei der letzten Präsidentenwahl von Staatschef Ashraf Ghani hintergangen. Er erklärte sich selbst zum Sieger.

Ein großes Problem sieht der Afghanistan-Experte auch darin, dass der Vertrag jetzt allein von den USA und den Taliban durchgezogen wird - ohne Beteiligung anderer Akteure, auch ohne die afghanische Regierung, gegen deren Teilnahme sich die Taliban sträuben. "Dazu kommen noch die Kriegsfürsten, die das Land beherrschen, die Drogenbarone - 90 Prozent des weltweiten Heroins kommen aus Afghanistan - und komplizierte ethnische und religiöse Konflikte, die auch von auswärtigen Mächten wie Pakistan oder dem Iran, die in Afghanistan intervenieren, befeuert werden", sagt Schetter.

Tatsächlich hatten sich die Taliban vor allem durch die Unterstützung Pakistans in Afghanistan überhaupt erst etablieren können. Das sunnitisch geprägte Nachbarland setzte im afghanischen Bürgerkrieg in den 1990ern auf die radikale Gruppierung sittenstrenger Koranschüler, die sich vor allem aus den zahlreichen afghanischen Flüchtlingen in Pakistan rekrutierte.

Angegriffene Identität

Diese Flüchtlinge sind bereits in den 1980er Jahren durch den Krieg und seine Folgen aus ihren überlieferten Sitten- und Moralvorstellungen herausgerissen worden. "Die Wertvorstellungen der traditionellen paschtunischen Stammesgesellschaft in den 1970er und 80er Jahren galten als enorm patriarchalisch - weit patriarchalischer als die des Islam", erklärt Schetter. Der echte Paschtune ist in dieser Sichtweise betont maskulin, mit dem Gewehr in der Hand verteidigt er sein Leben und seinen Besitz. Zu letzterem zählen auch die Frauen. "Die werden in der traditionellen paschtunischen Gesellschaft eher als Gegenstände denn als gleichberechtigte Menschen angesehen", sagt Schetter. Themen wie Blutrache und Stammesidentitäten spielen eine große Rolle, auch das Eigentum, über das der souveräne Paschtune verfügt.

"In den Flüchtlingslagern wurde diese Identität autonomer Männlichkeit angreifbar", analysiert der Afghanistan-Experte. "Der entwurzelte, nach Pakistan geflohene Paschtune konnte hier, auf engem Raum, seine Frauen nicht mehr beschützen, keine Waffen mehr tragen, hatte kein Eigentum mehr. Und er war zum Almosenempfänger von Hilfsorganisationen degradiert. Kein Umfeld hätte die traditionelle paschtunische Identität stärker infrage stellen können als diese Lager", sagt Schetter.

Islam bot sich als Lösung an

Als Lösung aus diesem Dilemma bot sich bereits für die von den USA unterstützten Mudschahiddin, die gegen die Sowjets kämpften, der Islam an. "Da hieß es: Ihr als rechtgläubige Muslime verhaltet Euch so, wie es der Prophet Mohammed von euch verlangt", erklärt Schetter. Dazu gehört der Dschihad, der Heilige Krieg, der das angegriffene Männlichkeitsbild wiederherstellen kann.

Heute haben die Taliban weite Teile Afghanistans unter Kontrolle, sie haben Schattenstrukturen aufgebaut, eigene Ministerien und Gouverneure. Während es in Kabul für die urbane Elite westlich anmutende Coffee-Shops gibt, sorgen im Dorf die Taliban für Ordnung. Sie lösen dort Probleme, während die Soldaten der Regierung oft Dorfbewohner terrorisieren. Ob die Taliban im Falle einer neuerlichen Machtergreifung wieder so brutal regieren würden wie in den 1990er Jahren? Solche Befürchtungen gibt es jedenfalls. "Viele moderne, urbane Afghanen haben in den letzten Jahren ihr Kapital aus dem Land abgezogen und sich ein zweites Standbein in Dubai oder Pakistan aufgebaut", sagt Schetter. Wenn die Taliban in die Städte vorrücken, könnte es einen neuen Massenexodus aus dem Land am Hindukusch geben. Und damit auch eine mögliche neue Fluchtwelle Richtung Europa.