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Erdogans Flüchtlingsjoker

Von Ronald Schönhuber

Politik

Offiziell begründet der türkische Staatschef die Öffnung der Grenzen mit der mangelnden Unterstützung der Europäer in der Flüchtlingskrise. Für Erdogan dürfte es möglicherweise aber auch um einen zusätzlichen Hebel gegen Russland gehen.


Gedroht hat Recep Tayyip Erdogan immer wieder. Schon als das EU-Parlament im November 2016 die Empfehlung abgibt, die Beitrittsgespräche mit der Türkei einzufrieren, malt der türkische Staatspräsident das Schreckgespenst der geöffneten Grenzen an die Wand. Doch ebenso wie in zahlreichen weiteren Fällen danach kommt es damals nicht zu einem neuen Ansturm auf Europa. Statt das im Frühjahr 2016 unter großer Mühsal mit der EU ausgehandelte Flüchtlingsabkommen platzen zu lassen, behält sich Erdogan sein größtes Druckmittel, das er gegenüber Europa besitzt, lieber noch auf.

Doch die geänderte Lage auf den Schlachtfeldern der Rebellenprovinz Idlib und ein neuer Flüchtlingstrek Richtung syrisch-türkischer Grenze haben Erdogan nun offenbar veranlasst, den Flüchtlingsjoker doch zu ziehen. Seit Freitag lässt die Türkei nun schon Migranten ungehindert in Richtung EU-Außengrenze ziehen. Mehrere tausend Menschen haben seither versucht, Griechenland oder Bulgarien zu Fuß oder per Boot zu erreichen. Und es könnte noch viel mehr werden: "Wir werden die Türen in nächster Zeit nicht schließen", hat Erdogan bereits angekündigt.

"Lassen uns nicht erpressen"

Offiziell geht es der Türkei vor allem um mehr Unterstützung durch die Europäer, von denen man sich zunehmend im Stich gelassen fühlt. Denn die Türkei hat mit der Aufnahme von fast 3,6 Millionen Vertriebenen bisher die Hauptlast des Massenexodus aus Syrien getragen. Mehr als 36 Milliarden Euro will die Türkei bereits für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge ausgegeben haben. Die sechs Milliarden Euro, die die Europäer der Türkei im Rahmen der Flüchtlingsdeals als Unterstützung zugesagt haben, kommen laut der Regierung in Ankara dagegen nur zögerlich und mit großen bürokratischen Hürden an.

Die Türkei will aber nicht nur die versprochenen Gelder schneller, sondern darüber hinaus zusätzliche Mittel - zum Beispiel für Erdogans neuestes Projekt: die Umsiedlung von syrischen Flüchtlinge aus der Türkei in eine sogenannte Sicherheitszone in Nordsyrien. Zwei Millionen Menschen sollen laut Erdogan dort hinziehen, 140 Dörfer mit internationaler Hilfe neu gebaut werden. Es sei nun an der EU, ihren "Teil der Last" zu tragen, fordert Erdogan am Montag in einer vom Fernsehen übertragenen Ansprache an die Mitglieder der Regierungspartei AKP. Es sei nicht Aufgabe der Türkei, sich um so viele Flüchtlinge zu kümmern.

In der EU reagiert man scharf auf die Aussagen des türkischen Präsidenten. "Niemand kann die Europäische Union erpressen und einschüchtern", sagt Migrationskommissar Margaritis Schinas. Die aus Sicht der Türkei zu geringe Unterstützung der Europäer ist womöglich aber nur ein Nebenaspekt im mittlerweile unendlich komplexen Puzzle rund um den syrischen Bürgerkrieg. So hält es Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in Berlin, für nicht unrealistisch, dass die Türkei die Grenzöffnung vor allem als Hebel für die zuletzt dramatisch aus dem Ruder gelaufene Auseinandersetzung mit Russland in Idlib sieht. Die Regierung in Ankara wolle, dass es an der Grenze zu Griechenland oder Bulgarien zu "unschönen Bildern kommt", um den Druck auf die Europäer und damit über die Nato auf Russland zu erhöhen.

"Ein Hilferuf Erdogans"

Auch Norbert Röttgen, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im deutschen Bundestag, sieht die Öffnung der türkischen Grenzen zur EU trotz "der äußeren Form einer Drohung" vielmehr als eine Art Hilferuf an. Erdogan sei mit seinem Versuch gescheitert, in Syrien mit Russland zusammenzuarbeiten, und genau das signalisiere er jetzt dem Westen.

Eine harte Gangart gegen Erdogan sei "im Lichte unserer Interessen der falsche Weg", warnt Röttgen, der zu den Bewerbern um den CDU-Vorsitz zählt, dementsprechend auch in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Der Westen solle nicht "auf den Ton" des türkischen Staatschefs eingehen, sondern "den Problemen" gerecht werden. Und dabei muss laut Röttgen auch über zusätzliche wirtschaftliche Sanktionen gegenüber Russland nachgedacht werden. Der russische Präsident Wladimir Putin habe bisher für "seinen Eroberungskrieg" an der Seite von Syriens Machthaber Bashar al-Assad keinen Preis bezahlen müssen.

Ob ein eventuelles türkische Kalkül in dieser Hinsicht aufgehen kann, ist allerdings mehr als fraglich. Denn in den vergangenen Jahren hat sich Russland weder den Sanktionen gebeugt, die nach der Annexion der Krim von so gut wie allen westlichen Staaten verhängt worden sind, noch hat der Kreml auf das scharfe britische Vorgehen nach dem Giftanschlag auf den übergelaufen Spions Sergej Skripal reagiert. Im aktuellen Fall könnten Erdogans erhoffte Helfer also selbst hilflos sein.