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1.600 Juden von Polen am 10. Juli 1941 in Jedwabne massakriert

Von Eva Krafczyk

Politik

Warschau - Selten hat ein Buch die Polen so aufgewühlt wie das knapp 120 Seiten lange Werk "Nachbarn" des in den USA lebenden polnischen Historikers Jan Tomasz Gross. Über seine Schilderung eines Pogroms, bei dem am 10. Juli 1941 bis zu 1.600 Juden der ostpolnischen Kleinstadt Jedwabne zu Tode geprügelt, misshandelt und bei lebendigem Leibe verbrannt wurden, sind nicht nur Historiker zerstritten.


Das Verbrechen vor sechzig Jahren teilt seit über einem Jahr die polnische Gesellschaft. Theologen und Journalisten, Intellektuelle und Politiker führen eine nicht endende Debatte über den Antisemitismus in Polen, über polnische Schuld, über Reue und Sühne. Während Staatsanwälte des Instituts des Nationalen Gedenkens (IPN) Indizien und Zeugenaussagen auswerten, ist vor allem in nationalkonservativen Kreisen eine Kampagne gegen das im Gange, was ihrer Meinung nach "den guten Namen Polens beschmutzt."

Jahrzehntelang sahen sich die meisten Polen als Opfer. Die deutschen Nazibesatzer ermordeten während des Zweiten Weltkrieges nicht nur drei Millionen polnischer Juden, sondern auch dreieinhalb Millionen christlicher Polen, verschleppten Millionen zur Zwangsarbeit. In keinem anderen von den Deutschen besetzten Land Europas erstreckte sich die Widerstandsbewegung auf so viele Bereiche - vom Partisanenkampf über Untergrundgerichte, geheime Schulen, Hochschulen und Kulturbetriebe, die es für die als "Untermenschen" behandelten Polen nicht geben durfte. In keinem anderen Lande wurden so viele Menschen mit der höchsten Ehrung des Staates Israel ausgezeichnet, der Medaille der "Gerechten unter den Völkern" für die Rettung verfolgter Juden unter Einsatz des eigenen Lebens. Doch Mut, Widerstand und Solidarität mit den jüdischen Mitbürgern waren eben nur die eine Seite der Medaille. Die andere, die "Szmalcowniki", die untergetauchte Juden erpressten oder an die Gestapo auslieferten, die Partisanen, die aus Antisemitismus selber Jagd auf Juden machten, war ein Tabuthema.

Als "Nachbarn" erschien, schienen Schockwellen durch Polen zu gehen. Dass der Schock immer noch anhält, hat den Warschauer Rabbiner Michael Schudrich sehr erstaunt. "Das Buch muss tief in der polnischen Seele etwas berührt haben", sagte er kürzlich bei einer Diskussion mit Gross in der Warschauer Synagoge.

Im Ausland dagegen, etwa in seiner Heimat Amerika, habe der Bericht über das Jedwabne-Pogrom niemanden sonderlich überrascht - nicht zuletzt auf Grund negativer Stereotype: "Viele sind davon überzeugt, dass die Polen den Deutschen bei der Vernichtung der Juden geholfen haben."

Jahrhundertelang war Polen Zufluchtsort europäischer Juden vor Verfolgung und Intoleranz gewesen. In den Jahren des Zweiten Weltkrieges wurde Polen zum größten jüdischen Friedhof ohne Gräber, standen Namen wie Auschwitz, Majdanek, Treblinka oder Sobibor für das Ende der polnisch-jüdischen Symbiose. Erst in den vergangenen Jahren seit der politischen Wende wurde vielen Polen bewusst, dass sie einen wichtigen Teil ihrer Kultur verloren hatten. In dieser Situation hatte der Bericht über das Jedwabne-Pogrom, für das jahrzehntelang die Gestapo verantwortlich gemacht wurde, die Wirkung einer Bombe.

Die Geschichte des Holocaust wird durch Jedwabne nicht umgeschrieben. Das polnische Selbstbild dagegen hat für viele Risse bekommen. Staatspräsident Aleksander Kwasniewski will ein Zeichen setzen, indem er sich bei den heute stattfindenden Gedenkfeiern in Jedwabne vor Überlebenden des Pogroms und Angehörigen der Ermordeten im Namen Polens entschuldigt. Die Feier am Jahrestag des Pogroms soll nicht nur der Welt zeigen, dass sich das heutige Polen auch mit den dunklen Flecken seiner Vergangenheit auseinandersetzt.