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Am Marktplatz der freien Meinung

Von Alexander Dworzak

Politik
© WZ

Erstmals unterzieht Twitter eine Nachricht von Donald Trump einem Faktencheck und sorgt für Aufregung in den USA.


In der Welt der sozialen Medien ist die Marke mit dem blauen Vogel ein kleiner, aber äußerst lauter Spatz. Er ist auch ein Verlautbarungsorgan. Und so nutzt Donald Trump Twitter ausgiebig. Dem US-Präsidenten folgen dort über 80,3 Millionen, neunthöchste Zahl aller Nutzer weltweit. Der Kurznachrichtendienst ist steter Begleiter beim Aufstieg vom Bau- und Societylöwen ins Weiße Haus gewesen. Jahrelang hat Trump unmittelbar und ungestört von Kritik seine Botschaften abgesetzt - bis jetzt.

Briefwahlen seien "im Wesentlichen betrügerisch" und führten zu einer "manipulierten Wahl", twitterte Trump. Der (demokratische) Gouverneur von Kalifornien sende Stimmzettel an jeden im Bundesstaat, egal wer die Person sei und wie sie hergelangte. Denn Trump fürchtet, die Briefwahl könnte den Demokraten bei der Präsidentenwahl zugutekommen. Daraufhin versah Twitter die zwei Nachrichten Trumps erstmals mit einem blauen Rufzeichen, der freundlichen Einladung an die Nutzer, sich über die Faktenlage zu informieren, und Links zu mehreren Nachrichtenseiten.

Zwei Richter wegweisend

Warum greift das Unternehmen erst jetzt bei einem notorischen Lügner ein, von dem die "Washington Post" 18.000 falsche oder irreführende Aussagen seit Beginn seiner Amtszeit 2017 gezählt hat? Das wäre eine typisch europäische Frage. Warum mischt sich Twitter überhaupt ein?, lautet die gängige US-Perspektive. Sie stützt sich auf den ersten Zusatzartikel zur US-amerikanischen Verfassung. Religionsfreiheit, Redefreiheit, Pressefreiheit sowie Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sind darin verbrieft.

Berühmt wurde die Metapher vom "Marktplatz der freien Ideen" von O.W. Holmes, Richter des Obersten Gerichtshofs. Er postulierte 1919 "Gedankenfreiheit nicht für diejenigen, welche mit uns übereinstimmen, sondern für diejenigen, die Gedanken verbreiten, die wir hassen". Sein Kollege Louis Brandeis warnte 1925 vor der Verherrlichung der Sicherheit auf Kosten der Freiheit. Der Kontext war jedoch ein völlig anderer als heute: Holmes und Brandeis wandten sich gegen die Repressionen, denen Mitglieder der Kommunistischen Partei in den USA nach dem Ersten Weltkrieg ausgesetzt waren, erinnert Maya Hertig Randall, Professorin für Verfassungsrecht an der Universität Genf. Die Verteidigung der Freiheit ging so weit, dass sich selbst die linke Bürgerrechtsbewegung ACLU in den 1970ern dafür einsetzte, Neonazis durch ein Viertel ziehen zu lassen, in dem Holocaust-Überlebende wohnten.

In Westeuropa hingegen habe die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus das grenzenlose Vertrauen in die Idee erschüttert, dass Vernunft und Wahrheit immer über gefährliche Ideologien siegen würden, schreibt Hertig Randall in einer Publikation der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus.

"Blind" bei Einzelpersonen

Die Konsequenz: "Der Schutz der Grundrechte bedeutet mehr als bloß die Pflicht der Nichteinmischung: Der Staat ist zum Handeln verpflichtet." So betont auch die Europäische Menschenrechtskonvention, dass die freie Meinungsäußerung "Pflichten und Verantwortung mit sich bringt".

In den USA seien die Grundrechte zwar Schutzschilde gegen den Missbrauch staatlicher Macht, konstatiert Hertig Randall, jedoch "blind gegenüber dem Machtgefälle innerhalb der Gesellschaft. Sie sollen die Menschen nur gegen Übergriffe der Behörden, nicht auch gegen Übergriffe von Einzelpersonen schützen", erklärt die Juristin.

Wie ausgeliefert Personen gegen Trumps Angriffe auf Twitter waren und sind, zeigt der Fall Joe Scarborough. Der TV-Moderator und Trump-Kritiker wird vom Präsidenten mit dem Tod einer Frau vor knapp 20 Jahren in Verbindung gebracht und als "Psycho" bezeichnet. Deren Witwer, Timothy Klausutis, bat Twitter-Chef Jack Dorsey, ihr Andenken zu schützen: "Meine Frau verdient Besseres." Ein Sprecher von Twitter richtete am Dienstag nur aus, man arbeite daran, existierende Produkteigenschaften und -politiken auszuweiten. Eine Kommentierung wie zur Briefwahl unterließ der Kurznachrichtendienst.

Die Bekämpfung von Falschnachrichten steht bei Twitter traditionell nicht oben auf der Prioritätenliste. Auch war der Druck nie so groß wie auf Facebook. Dessen Image wurde mit dem Datenabfluss an die berüchtigte Firma Cambridge Analytica bei der US-Präsidentschaftswahl 2016 ramponiert. Für Facebook sind mittlerweile mehr als 60 externe Organisationen tätig, die Einträge in 50 Sprachen auswerten. Twitter nimmt die Bewertung dagegen selbst vor und verwendet drei Kategorien: technische Manipulation, irreführende Verbreitung und schädliche Auswirkung, also ob beispielsweise durch die Nachricht Unruhen geschürt werden.

Delegitimierte Medien

Sowohl Twitter als auch Facebook haben sich zur Corona-Zeit den Kampf gegen Falschnachrichten auf ihre Fahnen geheftet. Mit den Aluhutträgern verhält es sich aber ähnlich wie mit vielen Trump-Anhängern: Sie vertrauen unabhängigen Quellen nicht. Die Saat deren jahrelanger Delegitimierung trägt Früchte, genauso wie die Bezeichnung "Mainstream-Medien" unter Trump zum Schimpfwort geworden ist. Dass Twitter für seine Bewertung des Briefwahl-Tweets als "fälschlich" und "unbegründet" nun CNN ins Treffen führt, wird viele Anhänger Trumps daher kaum vom Gegenteil überzeugen. Und erst recht nicht die Kritik der "Washington Post" an Trump. Das hochseriöse Blatt gehört Erzfeind und Amazon-Boss Jeff Bezos, den Trump "Bozo" nennt - Name einer US-Clownfigur. Trumps Lieblingssender Fox News wird hingegen von Twitter nicht zitiert.

Und so zürnt der Präsident, soziale Medien würde konservative Stimmen "komplett verschweigen". Das macht er über Twitter. Was zeigt: Beide Seiten brauchen einander weiterhin.