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Die Neuordnung des Nahost-Konflikts

Von Ronald Schönhuber

Politik

Schon ab 1. Juli könnte Israels Premier Benjamin Netanjahu sein Wahlversprechen einlösen und mit der Annexion der besetzten Gebiete im Westjordanland beginnen. Allzu großen Widerstand dürfte es weder aus Europa noch aus der arabischen Welt geben.


Der Bagger auf dem Bild leuchtet in einem kräftigen Gelb. Mit seiner großen Schaufel reißt er das ärmliche, wellblechgedeckte Haus ein, darüber breitet sich der tiefblaue Himmel aus. Gemalt hat das Bild Khadeeja Bisharat. Es ist nicht das einzige dieser Art. Auf einem anderen Gemälde der 37-jährigen Palästinenserin ist eine Gruppe von alten Frauen zu sehen, die zusammen mit zwei jungen Mädchen auf ein demoliertes Gebäude im Hintergrund blicken. Die Augen sind schreckgeweitet, die Gesichter grimassenhaft verzerrt.

Bisharat lebt in einer kleinen Siedlung im Jordantal. Von einem nahe gelegenen Hügel blickt hier ein Militärposten der Israelis auf das vor allem von Hirten bewohnte Dorf hinunter, die knapp 200 Einwohner zählende jüdische Siedlung Hamra liegt davon nur ein Stück weit entfernt.

Mit ihrer Malerei versucht Bisharat, vor allem ihre Ängste und die Unsicherheit auszudrücken. Werden die Bulldozer, die auch schon in der Vergangenheit im Jordantal immer wieder Häuser niedergerissen haben, bald wiederkommen? Werden ihre Familie und die anderen Dorfbewohner von hier weg müssen?

Dass das so kommt, ist alles andere als ausgeschlossen. Denn nach der Einigung auf eine Koalition zwischen Premier Benjamin Netanjahu und seinem Herausforderer Benny Gantz könnte sich im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern in den kommenden Monaten eine Zeitenwende vollziehen - beginnend möglicherweise schon mit dem Stichtag 1. Juli. Dieses Datum hat Netanjahu als frühestmöglichen Termin genannt, um sein großes Wahlversprechen einzulösen und mit der Annexion von Gebieten im seit 1967 von Israel besetzten Westjordanland zu beginnen.

Verteidigungsminister Gantz hat allerdings am Montag erklärt, dass er die mögliche Annexion wegen der Corona-Krise verschieben möchte. "Alles, was nichts mit dem Kampf gegen das Coronavirus zu tun hat, wird warten", betonte er. Der 1. Juli sei "kein heiliges Datum". Die Palästinenserführung erklärte sich derweil zu direkten Gesprächen mit Israel bereit.

"Eine historische Chance"

Wie wichtig Netanjahu die Sache ist, hat der 70-jährige Regierungschef zuletzt immer wieder deutlich gemacht. So ist in Israel in den letzten Wochen nicht nur kaum ein Tag vergangen, an dem nicht der Premier oder ein anderes Mitglied seiner konservativen Likud-Partei die Umsetzung der Annexionspläne zu einer der zentralen Aufgaben der neuen Regierung erklärt haben. Netanjahu hat auch mehrfach darauf hingewiesen, wie günstig die Situation aus seiner Sicht gerade ist. Israel stehe vor einer historischen Gelegenheit, wie es sie seit der Staatsgründung im Jahr 1948 nicht gab, sagte der Premier Ende Mai. "Es ist eine große Chance, die wir nicht ungenutzt verstreichen lassen werden."

Tatsächlich spricht aus der Warte des routinierten Machtpolitikers Netanjahu vieles dafür, nun rasch zu handeln. Denn mit Donald Trump sitzt derzeit nicht nur ein Mann im Weißen Haus, in dessen Amtszeit sich die amerikanisch-israelischen Beziehungen nach den angespannten Jahren davor wieder deutlich verbessert haben. Der ehemalige Immobilien-Tycoon hat auch so klar wie kein anderer US-Präsident vor ihm deutlich gemacht, dass er die Interessen Israels weit über jene der Palästinenser stellt.

So sieht Trumps Ende Jänner vorgestellter Nahost-Friedensplan, der Netanjahu als Blaupause für sein Annexionsvorhaben dient, zwar nach wie vor eine Zwei-Staaten-Lösung vor. Doch diese ist weit weg von den Vorstellungen der Palästinenser, die das gesamte Gebiet, das 1967 nach dem Sechs-Tage-Krieg besetzt wurde, für sich reklamieren. Statt eines großflächig zusammenhängenden Staatsgebietes bekämen sie ein mit jüdischen Siedlungen durchsetztes Territorium und müssten darüber hinaus auch noch auf das strategisch wichtige Jordantal verzichten. Insgesamt sollen rund 30 Prozent des Westjordanlands Teil des israelischen Staates werden, wenn es nach dem unter der Federführung von Trumps Schwiegersohn Jared Kushner entwickelten Friedensplan geht.

Dass Trumps Plan dermaßen pro-israelisch ausgefallen ist, macht ihn für Netanjahu aus mittelfristiger Sicht allerdings auch zum Risiko. Denn falls der republikanische Amtsinhaber, der mit seinem klaren Eintreten für Israel vor allem die zu seinen wichtigesten Wählern gehörenden evangelikalen Christen zufriedenstellen will, bei den Wahlen im November von Joe Biden geschlagen wird, könnte Trumps "Jahrhundertdeal" auch ganz schnell wieder Geschichte sein. So hat sich der demokratische Herausforderer nicht nur klar gegen die von vielen Experten als völkerrechtswidrig angesehenen Annexionen im Westjordanland gestellt. Im Gespräch mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde kündigte Biden Ende Mai auch an, alle diesbezüglichen Entscheidungen Trumps zurücknehmen zu wollen.

Alltagsprobleme und Corona

Es ist aber bei weitem nicht nur der Biden-Faktor, warum Netanjahu mit seinem Einverleibungs-Projekt wohl schon in den kommenden Wochen starten möchte. Laut einem Positionspapier des israelischen Geheimdienstministeriums, das die Deutsche Presse-Agentur einsehen konnte, spricht auch die derzeitige Stimmungslage in den Palästinensergebieten für eine rasche Annexion. Die meisten Menschen im Gazastreifen und im Westjordanland seien mit Alltagsproblemen beschäftigt und würden den geplanten Maßnahmen auch vergleichsweise gleichgültig gegenüberstehen. Und auch die internationale Staatengemeinschaft würde nach der Einschätzung der Geheimdienstanalysten kaum Probleme machen. Die Welt sei mit der Corona-Bekämpfung beschäftigt, die Aufmerksamkeit für das Thema Annexion daher gering, heißt es in dem Papier.

Uneiniges Europa

Doch selbst, wenn Regierungen rund um den Globus nicht ihre Energie auf die Eindämmung der Pandemie lenken würden, käme derzeit wohl nicht allzu viel Gegenwehr. So hat Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn bereits zwei Monate vor der Präsentation von Trumps Friedensplan einen Brief an seine EU-Amtskollegen geschrieben, in dem er mit eindringlichen Worten vor der Aushöhlung der Zwei-Staaten-Lösung warnt. Doch eine schlagkräftige und entschlossene Allianz konnte Asselborn, der die israelischen Pläne auch schon mit der Annexion der Krim durch Russland verglichen hat, bisher innerhalb der EU nicht schmieden.

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Vielmehr gleicht die Nahostpolitik in Europa inzwischen einem vielstimmigen Konzert. So gibt es neben dem von Luxemburg angeführten Block, zu dem auch Schweden, Finnland, Belgien und Irland gehören, eine zweite große Gruppe von Ländern, die mehr oder weniger deutlich auf der Seite von Netanjahu stehen. Wortführer dieser Allianz, der auch Griechenland und Lettland zugerechnet werden, sind vor allem die Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei, die ihre Beziehungen zu Israel in den vergangenen Jahren spürbar intensiviert haben.

Die Regierungen in Prag und Budapest haben dabei auch schon deutlich gemacht, dass es mit ihnen keine Strafmaßnahmen gegen Israel geben wird. So hat sich der tschechische Abgesandte bereits bei einem EU-internen Treffen am 6. Mai dezidiert gegen jede Art von "unilateralen Schritten" ausgesprochen, nur knapp eine Woche später soll dann Ungarn laut Informationen der Nachrichtenagentur Reuters alle Versuche verhindert haben, eine gemeinsame Erklärung zu Israel für das anstehende EU-Außenministertreffen zu formulieren. Unterstützung kam dabei auch aus Wien, doch die Position Österreichs ist zumindest ambivalent. So bezeichnete Außenminister Alexander Schallenberg vor kurzem das Völkerrecht als rote Linie, über Strafmaßnahmen will man im Außenministerium zum jetzigen Zeitpunkt aber keinesfalls reden.

Doch auch Deutschland, das am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, dürfte sich äußerst schwer damit tun, wegen der auch von der EU prinzipiell als völkerrechtswidrig betrachteten Annexionen Sanktionen zu verhängen. Zu schwer wiegt hier die historische Schuld, zu sensibel ist hier die heutige deutsche Politiker-Generation. Deutschland sei zwar gegen die Annexionen, sagt der Nahost-Experte Peter Lintl, der bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik ein Forschungsprojekt zu den Außenbeziehungen Israels leitet, zur "Wiener Zeitung". "Aber Deutschland wird sich nicht für Strafmaßnahmen einsetzen, das ist klar." Lintl zufolge wird es daher wohl nur Einzelmaßnahmen von Staaten geben, so werde etwa in den nordischen Ländern und Belgien darüber nachgedacht, Palästina als Staat anzuerkennen.

Gemeinsamer Feind Iran

Doch nicht nur in Europa, wo es früher großen Ländern wie Großbritannien oder Frankreich gelungen war, eine vergleichsweise einheitliche Nahost-Politik durchzusetzen, haben sich die Dinge verschoben. So hat sich in vielen arabischen Staaten die Sichtweise durchzusetzen begonnen, dass der größte Feind heute nicht mehr in Jerusalem, sondern in Teheran sitzt. Die Versuche des Iran, sich als regionaler Hegemon zu etablieren, werden sowohl von arabischer als auch von israelischer Seite als massive Bedrohung wahrgenommen.

Israel ist, zumindest was den Iran betrifft, damit zum stillen, aber wichtigen Verbündeten der Araber geworden, mit dem man sich über informelle Kanäle auch in zunehmendem Maße austauscht. So hat der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman Israel in einem Interview mit dem Magazin "The Atlantic" schon vor mehr als zwei Jahren das Recht auf ein eigenes Land zugesprochen. Israel und Saudi-Arabien teilten viele Interessen, sagte der Kronprinz damals.

Nach außen hin wird es aus Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, die beide traditionell zu den wichtigsten Fürsprechern der Palästinenser gehören, zwar lauten Protest geben, wenn Netanjahu in den kommenden Wochen seine Annexionspläne umsetzt. Doch ob die beiden Ländern, die auch die bedeutendsten arabischen Verbündeten der USA sind, sich zu mehr durchringen können und damit den fragilen Annäherungsprozess an Israel gefährden, ist fraglich.

In einem Mitte Juni in der israelischen Zeitung "Yedioth Ahronot" erschienen Gastbeitrag warnte Yousef al-Otaiba, der Botschafter der Vereinigten Arabischen Emirate in den USA, zwar vor der Umsetzung der Annexionspläne, die seiner Meinung nach nicht zuletzt die Stabilität Jordaniens gefährden würde. Von einem "palästinensischen Staat" ist in dem Beitrag allerdings nicht die Rede, was vielfach als Anerkennung des Status quo in den besetzten Gebieten gedeutet wurde.

Mehrere Szenarien möglich

Wie weit Netanjahu den kommenden Wochen und Monaten tatsächlich zu gehen bereit ist, ist allerdings in hohem Maße ungewiss. Denn der israelische Premier, für den die Annexionspläne im Wahlkampf auch ein geeignetes Vehikel waren, um von den gegen ihn laufenden Korruptionsprozessen abzulenken, ist einem Palästinenserstaat zwar zeit seines Lebens ablehnend gegenübergestanden. Gleichzeitig hat sich Netanjahu aber immer auch als das Machbare im Auge behaltender Realpolitiker gezeigt. Entsprechend gibt es auch diesmal eindeutige Hinweise darauf, dass er der Bogen vorerst nicht überspannen will. So hat Netanjahu bei einem Treffen mit dem den Annexionsplänen deutlich zurückhaltender gegenüberstehenden Gantz vor kurzem nicht nur ein Szenario skizziert, sondern gleich vier Varianten vorgelegt - von der vollständigen Einverleibung der ursprünglich anvisierten 30 Prozent des Westjordanlands bis hin zur Annexion von lediglich ein paar Landstrichen, in denen jüdische Siedlungen liegen.

Fakten geschaffen hätte Netanjahu aber auch dann schon, wenn zunächst nur die Minimalvariante umgesetzt wird und die Annexion auf die drei von knapp 70.000 Siedlern bewohnten Blöcke Maale Adumim, Gush Etzion und Ariel beschränkt bleibt. Denn laut einem Bericht der "Times of Israel" besteht offenbar Konsens zwischen Jerusalem und Washington darüber, dass die "auf den Landkarten kaum Arbeit machenden" Blöcke auch bei einer Friedensregelung mit den Palästinensern bei Israel bleiben können.

In jedem Fall hat Netanjahu aber auch das Spiel verändert. Denn statt der Frage "Abzug aus den besetzten Gebieten oder nicht" geht es nun auf einmal nur noch um die Frage "Annexion oder nicht". Für die Palästinenser, bei denen sich die in Gaza herrschende Hamas und die im Westjordanland regierende Fatah in tiefer Feindschaft gegenüber stehen, bleibt damit realistischerweise nicht viel mehr übrig, als auf die Abwahl Trumps im November zu hoffen. Im Dorf der Malerin Khadeeja Bisharat will man aber nicht so schnell aufgeben. "Wir werden mit allen Mitteln, die wir haben, Widerstand leisten", sagt Bisharats Mann Mahmoud.