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Im Sog des libyschen Debakels

Von Michael Schmölzer

Politik

Vor der Küste der EU herrschen Krieg und Chaos. Russland, Ägypten und die Türkei mischen mit.


Es ist ein brandgefährlicher Konflikt, der unmittelbar vor den Toren der EU immer weitere Kreise zieht. Nicht nur, dass in Libyen ein Bürgerkrieg tobt, der beträchtliche Opfer fordert: Zuletzt sind auch die Militärmächte und Nato-Partner Türkei und Frankreich im Mittelmeer direkt aneinandergeraten. Und das beim vorgeblichen Versuch, Ruhe und Ordnung zu stiften.

Libyen ist nach dem gewaltsamen Tod von Langzeit-Herrscher Muammar Gaddafi im Oktober 2011 vollends ins Chaos abgeglitten. Nach dem Ende des Tyrannen, der mit massiver militärischer Unterstützung des Westens beseitigt worden war, gab es Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Bald war klar, dass das Blutvergießen nicht zu Ende ist - ganz im Gegenteil. Rivalisierende Gruppen begannen einander zu bekämpfen, alte Gegensätze zwischen West und Ost, zwischen Stämmen und Interessen brachen auf und stürzten das Land aufs Neue ins Unglück.

Ausländische Einmischung

Die Einmischung ausländischer regionaler Mächte, allen voran der Türkei, Russlands, Saudi-Arabiens, Ägyptens und Katars, macht die komplizierte Lage noch komplizierter - und gefährlicher.

Derzeit stehen einander in Libyen zwei große Gegner gegenüber: Eine von der UN anerkannte "Regierung der Nationalen Übereinkunft" unter Premier Fajes al-Sarradsch, die im Norden die Hauptstadt Tripolis und umliegende Gebiete kontrolliert. Auf der anderen Seite ist der abtrünnige General Khalifa Haftar, der den Osten und Süden kontrolliert.

In Wahrheit sind es unzählige rivalisierende Milizen, die um die Macht kämpfen. Eine militärische Entscheidung ist nicht in Sicht. Zuletzt haben Einheiten der in Bedrängnis geratenen Einheitsregierung eine Offensive Haftars auf Tripolis stoppen können und ihrerseits die Initiative übernommen. Derzeit läuft eine Offensive gegen die Hafenstadt Sirte, die von Haftar kontrolliert wird und strategisch von beträchtlichem Interesse ist.

Die Erfolge der Regierung waren nur mit Hilfe aus der Türkei möglich, während Russland, die Saudis und Ägypten General Haftar unterstützen. Libyen ist somit zum Spielball divergierender Interessen regionaler Mächte geworden - eine tödliche Gemengelage, wie man aus dem Fall Syrien weiß. So will Ägypten direkt in Libyen einmarschieren, sollten libysche Regierungstruppen Sirte erobern. Russland hat mehr als tausend Söldner der berüchtigten "Gruppe Wagner" im Land, die auch in Syrien aktiv ist.

Alle Versuche, im Konflikt zu vermitteln, sind bis jetzt gescheitert. Darunter auch eine Libyen-Konferenz in Berlin im Jänner. Seit neun Jahren gilt ein UN-Waffenembargo; die Europäische Union hat die Militärmission "Irini" zur Überwachung gestartet. Per Satellit können Lieferungen von Kriegsgerät nach Libyen erkannt, aber nicht gestoppt werden.

Embargo wird ignoriert

Wer das Embargo unterläuft, ist bekannt. UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat zuletzt die Türkei, Ägypten, die Arabischen Emirate und Russland namentlich als Lieferanten genannt. Brüssel hat diese Länder bisher nicht für die Verstöße kritisiert.

Mit "Irini" hat die EU Schiffe vor der libyschen Küste im Einsatz. Dazu kommt eine Mission der Nato, die ebenfalls Kriegsschiffe im Mittelmeer stationiert hat und im Rahmen des Einsatzes "Sea Guardian" gegen Terrorismus vorgeht.

Die verschiedenen Unternehmen machen die Sache nicht einfacher: Am 10. Juni kam es zu einer spektakulären Konfrontation zwischen Frankreich und der Türkei auf hoher See. Dabei richtete ein türkisches Kriegsschiff sein Feuerleitradar auf eine französische Fregatte. Da solche Systeme nur benutzt werden, um Zieldaten für Waffensysteme zu liefern, wurde die türkische Vorgangsweise von Frankreich als "extrem aggressiv" gewertet.

Die Türkei wies alle Vorwürfe zurück. Die Fregatte "Courbet", so Ankara, soll in unmittelbarer Entfernung des türkischen Schiffs "gefährlich schnell" unterwegs gewesen sein und keinen Funkkontakt aufgenommen haben.

Gefechte mit Worten

In Nato-Kreisen sieht man die Sache anders. Demnach war das türkische Verhalten als bewusste Provokation gemeint und habe den Zweck gehabt, die französische Fregatte von der Kontrolle eines verdächtigen Frachtschiffes abzuhalten. Die unter der Flagge Tansanias fahrende "Cirkin" hätte in der Tat Waffen für die libysche Regierung geladen haben können und sollte von der "Courbet" deshalb untersucht werden.

Allerdings hat kurz vor dem Zwischenfall eine griechische Fregatte der EU-Operation "Irini" versucht, die "Cirkin" zu kontrollieren. Die Türken hatten den ohnehin traditionell verfeindeten Griechen per Funk deutlich gemacht, dass das Schiff unter ihrem Schutz stehe und nicht kontrolliert werden könne.

Der Schaden ist angerichtet und der Krieg der Worte eröffnet: Präsident Emmanuel Macron verfügte Frankreichs Rückzug aus "Sea Guardian", bescheinigte der Türkei eine "kriminelle und historische Verantwortung" und warf Ankara vor, "massenhaft dschihadistische Kämpfer aus Syrien" zur Unterstützung der Regierung nach Libyen gebracht zu haben. Die Türkei lässt das nicht gelten und wirft Frankreich vor, mit dem abtrünnigen General Haftar zu sympathisieren.