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Die Post-Covid-19-Welt

Von Thomas Seifert

Politik
© getty images/adventtr

Die ersten Konturen der Welt nach Corona werden deutlich: Covid-19 hat die Geschwindigkeit des Wandels beschleunigt.


Die Covid-19-Krise verändert nicht die Welt, sondern sie zeigt uns, wie die Welt sich verändert hat." Das ist eine der Kernthesen des aus Bulgarien stammenden Intellektuellen Ivan Krastev, die sich in dessen Buch "Ist heute schon morgen?" findet und die Krastev auch in einem Interview mit der "Wiener Zeitung" vertreten hat.

Und tatsächlich: Sieben Monate, nachdem die ersten Covid-Fälle in Wuhan in der chinesischen Provinz Hubei bekannt geworden sind, werden nun die ersten Konturen einer im Entstehen begriffenen Post-Covid-Welt sichtbar.

Geht nun eine Ära zu Ende?

Der geachtete Kommentator der "Financial Times", Martin Wolf, sieht den Beginn einer neuen Ära. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die westlichen liberalen Demokratien zwei politisch höchst gegensätzliche Phasen erlebt: Die erste Phase, die von 1945 bis in die 1970er-Jahre dauerte, nennt er die John-Maynard-Keynes-Ära. Diese Ära sei gleichzeitig eine Zeit der Sozialdemokratie gewesen: In den USA wurde die Politik des "New Deal" fortgeschrieben und in Westeuropa entwickelten sich sozialpartnerschaftliche Konsensdemokratien.

Diese Phase wurde in den 1980er Jahren vom "Thatcher-Reagan"-Konsens abgelöst. Die Ideen von Milton Friedman und der sogenannten Chicagoer Schule, die um Ideen eines globalisierten freien Marktes kreisten, wurden von Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien umgesetzt. Die Schlagwörter des konservativen Duos: Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung.

Eine weitere Säule war ein radikaler Rückbau des Staates. Ronald Reagan brachte die Staats-Skepsis in einer Rede 12. August 1986 auf den Punkt. "The nine most terrifying words in the English language are: I’m from the government and I’m here to help - Die angsteinflößendsten Wörter der englischen Sprache sind: Ich bin von der Regierung und ich bin hier, um zu helfen."

Nun, in Zeiten der Covid-Pandemie, ist das - zumindest in den Ländern der Europäischen Union - der wohl beruhigendste Satz. Denn angesichts eines Absturzes des Bruttoinlandsprodukts, sinkender Gewinnmargen in den Unternehmen und steigender Arbeitslosigkeit sind staatliche Interventionen gefragt. Wer, wenn nicht der Staat, soll nun nicht nur die Pandemie bekämpfen, sondern auch die Folgen des Beinahe-Kollapses der Weltwirtschaft abfedern?

Zwischen der Ära der Dominanz sozialdemokratischer Ideen und der radikalliberalen Milton Friedman-Phase lag das Interregnum hoher Inflationsraten in den späten 1970er Jahren, schreibt der "Financial Times"-Kommentator Martin Wolf.

Die Weltfinanzkrise, die im Jahr 2008 ihren Ausgang genommen hat, scheint im Rückblick den Beginn eines zweiten Interregnums zu markieren. Das ancien régime konnte zwar durch die Rettung des Finanzsystems bewahrt werden, aber der Glaube an das System war erschüttert und das Auseinanderdriften der Gesellschaft, die durch die auf die Finanzkrise folgende Austeritätspolitik beschleunigt wurde, habe Populisten in Europa und den USA den Weg geebnet, wie Eric Lonergan und Mark Blyth in ihrem kürzlich erschienen Buch "Angrynomics" argumentieren. Demnach ist Austeritätspolitik dieses Mal kein taugliches Instrument, um nach der Überwindung der Krise die angehäuften Schulden abzutragen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass sich eine neue Balance in der Besteuerung von Vermögen, Kapitaleträgen, Arbeit, Ressourcen und Konsum einstellt. Das Schließen von Steuerschlupflöchern wird dabei ebenfalls eine Rolle spielen.

Die von der Corona-Pandemie verursachte Wirtschaftskrise verlangt nach einem beherzten Eingreifen des Staates: Angesichts des Heeres von Millionen Arbeitslosen bliebt den Staaten gar nichts anderes übrig, als die Sozialsysteme zu stärken und schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme aufzulegen. Denn die Spaltung der Gesellschaft in Habenichtse und Superreiche war in manchen Gesellschaften schon vor der Covid-19-Krise zu einer echten Gefahr geworden.

Es war gerade Donald Trumps Abkehr von republikanischen Werten der Reagan-Ära, die ihm den Wahlsieg 2016 einbrachte. Trump ist zwar mit einem Deglobalisierungs-Versprechen Präsident geworden, aus seinen Versprechungen, die Infrastruktur zu verbessern und die strukturschwachen Regionen, in denen viele seiner Wählerinnen und Wähler leben, zu fördern, ist aber all die Jahre nichts geworden.

Nach den derzeitigen Umfragen hat Donald Trump keine Chance auf eine Wiederwahl am 3. November 2020 - er liegt hoffnungslos hinter seinem Herausforderer, dem Demokraten Joe Biden, zurück.

Doch auch nach einem Biden-Sieg im November würde die Rolle der USA auf der internationalen Bühne geschwächt sein: Trump hat die meisten seiner Verbündeten verprellt. Das eklatante Versagen der USA im Kampf gegen das Coronavirus empfehlen die Vereinigten Staaten nicht gerade als Vorbild, sondern haben die strukturellen Schwächen dieses Landes schonungslos ans Licht gebracht: Es zeigt sich das Bild einer von einer Vielzahl politischer und sozialer Bruchlinien zerfurchten Gesellschaft. Dazu kommt ein für viele unleistbares Gesundheits- und Bildungssystem, ein im "Krieg gegen den Terror" militarisierter Sicherheitsapparat und struktureller Rassismus, Diskriminierung und das Fehlen von Chancengleichheit. Amerikas Herausforderer China musste in den vergangenen Monaten zum Schluss kommen, dass die USA schwächer sind, als die Nomenklatura in Pekings Regierungsbezirk Zhongnanhai bisher vermutet hat.

Die Pandemie markiert somit auch den Beginn eines neuen Verhältnisses zwischen den USA und China.

Ein neuer Kalter Krieg

Erst am Donnerstag hat US-Außenminister Mike Pompeo China "Tyrannei" vorgeworfen und die "Staaten der freien Welt" aufgerufen, sich der Bedrohung durch Peking entgegenzustellen. "Wenn die freie Welt das kommunistische China nicht verändert, wird das kommunistische China uns verändern", sagte Pompeo bei einer Rede in der Richard-Nixon-Bibliothek im kalifornischen Yorba Linda. China habe die Großzügigkeit des Westens ausgenutzt und agiere innenpolitisch zunehmend autoritär und nach außen immer aggressiver "in seiner Feindseligkeit gegenüber der Freiheit", sagte Pompeo.

Die Pompeo-Rede weckte Erinnerungen an die Rhetorik des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion: "Wir können die fundamentalen politischen und ideologischen Unterschiede zwischen unseren Ländern nicht länger ignorieren."

Pompeos Rede ist nur der letzte Schritt in einer ganzen Reihe von Feindseligkeiten zwischen beiden Ländern: Beide Staaten haben Journalisten ausgewiesen beziehungsweise deren Visa nicht verlängert, die USA haben das chinesische Konsulat in Houston geschlossen, worauf China die US-Konsulate in Wuhan in der Provinz Hubei und Chengdu in der Provinz Sichuan zusperrte. Darüber hinaus setzen die USA alles daran, den führenden chinesischen Telekom-Hardware-Anbieter Huawei aus dem Markt zu drängen. Zuletzt gab es auch Drohungen, die bei Jugendlichen in den USA beliebte Social-Media-App TikTok zu verbieten.

Scharfe Töne kommen auch aus Peking: Die USA "haben den Verstand verloren, ihre Moral und Glaubwürdigkeit", schimpfte kürzlich Chinas Außenminister Wang Yi. Mit ihrem "Amerika zuerst" trieben die USA "Egoismus, Unilateralismus und Mobbing auf die Spitze".

Was nun droht, ist das Ende von Chimerica, die Entkopplung der beiden größten Volkswirtschaften der Welt. Es droht ein neuer Kalter Krieg.

Aber auch Chinas Ansehen in der Welt ist seit dem Amtsantritt von Xi Jinping geschwunden. Bei den Olympischen Spielen im Jahr 2008 und bei der Expo in Schanghai im Jahr 2010 wollte sich das Reich der Mitte von seiner besten Seite zeigen.

Damit ist es vorbei: So hat China die Welt nach dem Ausbruch der Sars-CoV-2-Epidemie in Wuhan zu lange über die Gefährlichkeit des Virus im Dunkeln gelassen. Im Südchinesischen Meer ignoriert Peking einen Spruch des Schiedsgerichtshofs in Den Haag von 2016, das Chinas Gebietsansprüche ablehnt.

Und mit einem neuen Sicherheitsgesetz wird Hongkong - bisher das liberale Aushängeschild Chinas - enger an die Kandare genommen. Zuletzt lag China im Himalaja mit Indien im Clinch, bei einer militärischen Auseinandersetzung, bei denen es auch Tote gab.

Europa droht im Konflikt zwischen China und den USA zwischen die Fronten zu geraten. Europa hat in Vergangenheit stets auf multilaterale Institutionen gesetzt. Doch die Vereinten Nationen, die Weltgesundheitsorganisation WHO oder die Welthandelsorganisation WTO sind marginalisiert. "Die Pandemie verändert die Welt, wie wir sie kennen. Unsere Handelspolitik muss angepasst werden, um die europäischen Interessen wirksamer verfolgen zu können", sagte EU-Handelskommissar Phil Hogan im Juni. Es brauche einen "entschlosseneren Ansatz", um die EU vor "feindseligen oder missbräuchlichen Handlungen zu schützen".

"Der Lärm um die De-Globalisierung wird lauter", sagt auch Cui Hongjian, Europa-Experte am Institut für Internationale Studien in Peking, gegenüber der Deutschen Presseagentur dpa. Beide Seiten würden versuchen, die Europäer auf ihre Seite zu ziehen. Für den Anti-China-Block sollen gleichgesinnte Demokratien gewonnen werden. Als Reaktion besinnt sich China stärker auf seine eigenen Kräfte, kurbelt die Innovation und den heimischen Markt an, um unabhängiger zu werden - eine Art "chinesische Entkopplung", sagt Cui Hongjian.

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Petrischalen der Pandemie

Wie sieht die Neue Normalität abseits der politischen und volkswirtschaftlichen Debatten und der Verschiebung der geopolitischen Plattentektonik aus? Was geschieht jenseits der historischen Tiefenströmung? Wie wirkt sich die Pandemie auf das Leben und Arbeiten, auf Stadt und Land aus?

Das Virus ist ein direkter Angriff auf die Stadt. Städte leben von Dichte, Offenheit, Kommunikation, Austausch. Städte sind Brutkästen neuer Ideen, Orte des kulturellen Austauschs, Plattformen des Waren- und Kapitalumschlags und Bühnen des politischen und gesellschaftlichen Wandels. Städte waren seit Beginn der Zivilisation die Motoren des menschlichen Fortschritts.

Nun, in Zeiten von Covid-19, sind Städte Petrischalen der Pandemie.

Social Distancing ist eine Negation der städtischen Idee. Stadtluft wird durch eine Maske eingeatmet, das Gedränge der Menschenmenge, das quirlige Gewusel, das überzeugte Urbanisten stets inspiriert hat, ist zu einer Bedrohung geworden.

Die Pandemie ist eine ernste Bedrohung für das Geschäftsmodell der Großstadt.

Wenn physischer Präsenz am Arbeitsplatz oder an der Uni eine geringere Bedeutung zukommt und E-Commerce weiter auf dem Vormarsch ist, dann sinkt der Bedarf für städtische Gewerbeimmobilien, mit einer Abnahme der Zahl der in einer Stadt lebenden Studierenden leidet das kulturelle und intellektuelle Leben der Stadt.

Digitalisierung

In "Covid-19: The Great Reset", einem kürzlich erschienen Buch von Klaus Schwab, dem Gründer des World Economic Forum, das jährlich in Davos stattfindet, und Thierry Malleret, dem Gründer des einflussreichen Investoren-Newsletters ("Monthly Barometer"), prognostizieren die beiden Autoren, dass Telearbeit und Homeoffice auch nach der Pandemie fixer Bestandteil der Arbeitswelt sein werden.

Denn sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber konnten sich davon überzeugen, dass Telearbeit funktioniert - Arbeitnehmer freuten sich über den Gewinn an Autonomie und Flexibilität und Arbeitgeber über den Gewinn an Arbeitsproduktivität und auf die Aussicht, in Zukunft bei Büromieten und Betriebskosten zu sparen. "Wir wollen nicht zurück in die normale Arbeitswelt und die alten Muster", sagt auch die Wiener Beraterin für neue Arbeitsmodelle Lena Maria Glaser.

Die Nutzung von Büroflächen wird sich verändern: Großraumbüros sind out, Telekonferenz-Ausstattung von Sitzungsräumen gehört nun zum Standard.

Das hat massive Auswirkungen auf den Büroimmobilienmarkt: Der Wert des globalen Büro- und Gewerbeimmobilienmarkts übersteigt übrigens den kombinierten Marktwert des globalen Aktien- und Anleihenmarkts.

Doch mit dem Schrumpfen des Büroimmobilienmarkts in größeren Städten sinkt auch die Notwendigkeit für die Angestellten, sich in der unmittelbaren Nähe des Bürostandorts niederzulassen. Wenn man nur mehr ein, zwei Mal die Woche ins Büro fährt, ist man eher bereit, einen längeren Anfahrtsweg in Kauf zu nehmen, als wenn man Montag bis Freitag täglich ins Büro muss. Eine derartige Entwicklung hätte - wenn sich der Trend auch nach der Überwindung der Covid-Krise verfestigt - somit auch Auswirkungen auf den Wohnimmobilienmarkt in Städten und könnte dort zu niedrigeren Mieten und sinkenden Immobilienpreisen führen.

Mehr Lieferketten-Resilienz

Unternehmen überdenken ihre Lieferketten: Komplexes Sourcing und lange Distanzen zu den Lieferanten gehören der Vergangenheit an, Unternehmen diversifizieren ihre Lieferantenpalette, um Abhängigkeiten von einzelnen, für die eigene Produktion kritischen Herstellern zu verhindern. Die Covid-19-Pandemie hat die Abhängigkeit des Westens von Asien in Bezug auf medizinische Ausrüstung und Pharma-Grundstoffe gezeigt. Die Europäische Union - aber auch die USA - werden danach trachten, kritische Güter (dazu könnten auch Telekom- und IT-Ausstattung und sogar Handys und Computer zählen) in der eigenen Hemisphäre zu produzieren. Schwab und Malleret schreiben im Buch "Covid-19: The Great Reset": "Unternehmen, deren Profitabilität auf Just-in-Time-Lieferketten beruht, werden ihren Modus Operandi überdenken und die Idee der Maximierung von Effizienz und Profit ein Stück weit der Liefersicherheit und Resilienz opfern müssen."

Was passiert, wenn man die Perspektive wechselt, wenn man die Lage nicht aus der Vogelperspektive, sondern aus der Froschperspektive betrachtet? Hatte Covid-19 nicht zuallererst Konsequenzen für den eigenen, höchstpersönlichen Lebensbereich jedes Einzelnen?

Covid-19 und das Individuum

Wie haben Menschen die Zeit der sozialen Isolation erlebt? Hat die Pandemie die Solidarität unter den Menschen gestärkt? Hat Covid-19 den Blick aufs Wesentliche geschärft? Und welche Schlüsse ziehen die Bürgerinnen und Bürger aus der Erfahrung, dass die Handlungsfähigkeit der Politik - zumindest in den meisten Staaten der EU - viel höher ist als angenommen?

Die Bilder, die von der Pandemie im Gedächtnis haften bleiben, sind die Aufnahmen aus Italien: Von Menschen, die auf den Balkonen singen und musizieren und die jenen applaudieren, die auch in der Zeit der Quarantäne die öffentliche Versorgung sicherstellten. Die Menschen in weiten Teilen der Welt teilten eine Erfahrung - überall hieß es: "Bleiben sie zuhause!"

Doch je länger die Pandemie andauert, umso stärker erodiert das Gemeinschaftsgefühl.

Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk - er arbeitet gerade an einem Roman mit dem Titel "Pestnächte", der in der Zeit der Pestpandemie von 1901 spielt - schrieb in einem Beitrag in der "Süddeutschen Zeitung" über Verschwörungstheorien, die fast zwangsläufig im Gefolge von mit Pandemien entstehen: "Die häufigsten Gerüchte bei einem Ausbruch der Pest galten der Frage, wer die Krankheit eingeschleppt hatte und woher sie kam." Die tiefe Verunsicherung und Existenzängste führen bei den Betroffenen zu einem Tunnelblick und verunmöglichen gemeinschaftliches koordiniertes Handeln.

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Die Frage, die Schwab und Malleret in den Schlussfolgerungen ihres Buches "Covid-19: The Great Reset" aufwerfen: "Die tiefe Krise, die von der Pandemie verursacht wurde, gibt uns die Gelegenheit, darüber nachzudenken, wo unsere Volkswirtschaften und Gesellschaften funktionieren und wo nicht. Das Urteil scheint klar: Wir müssen uns ändern." Wir stehen an einem Scheideweg, schreiben sie: "Der eine Weg führt in eine grünere Zukunft sozialer Inklusion, in der Mutter Natur mehr Respekt gezollt wird. Der andere Weg ist die Fortsetzung des bisherigen - doch dieser Weg würde böse Überraschungen bereithalten."