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Einschränkungen werden umgangen: "Das Maß ist voll"

Von Michael Schmölzer

Politik

Fast eine Million Corona-Tote weltweit. Einschränkungen werden in London, Marseille und Tel Aviv offen umgangen.


Knapp eine Million Menschen sind weltweit bereits am Coronavirus gestorben, mehr als 32 Millionen gelten global als infiziert. Die meisten Fälle gibt es in den USA, wo knapp sieben Millionen Ansteckungen gezählt werden, gefolgt von Indien mit 5,8 Millionen und Brasilien mit 4,6 Millionen. In Brasilien sind bereits fast 140.000 Menschen an der Pandemie gestorben.

Unvorstellbare Zahlen, die in Europa für Beunruhigung sorgen. Zumal Länder wie Polen, Tschechien und Ungarn, die die Pandemie zuletzt gut im Griff hatten, jetzt stark steigende Infektionszahlen verzeichnen. Überall werden jetzt in großer Eile Maßnahmen gesetzt, um eine Katastrophe im Gesundheitswesen zu verhindern. Und überall regt sich Widerstand.

Pub-Besucher trinken auf der Straße weiter

Mit mehr als 40.000 Toten ist Großbritannien das am schwersten getroffene europäische Land. Jetzt wurde mit 6634 Corona-Infektionen der höchste Stand innerhalb eines Tages erreicht.

Premierminister Boris Johnson hat eine eigene Theorie zu dieser Entwicklung parat: Die britischen Infektionszahlen seien deshalb höher als in Deutschland und in Italien, weil Großbritannien ein "freiheitsliebendes Land" sei, so der Tory-Politiker: In den vergangenen 300 Jahren sei "praktisch jeder Fortschritt, von der Meinungsfreiheit bis hin zur Demokratie", von Großbritannien ausgegangen. "Es ist sehr schwierig, von der britischen Bevölkerung zu verlangen, dass sie einheitlich die Regeln so befolgt, wie es notwendig ist."

Italiens Präsident Sergio Mattarella reagierte auf die Ansage. Auch Italien sei freiheitsliebend, kontert er, doch liege den Italienern auch die "Ernsthaftigkeit am Herzen".

Während am Mittwoch tausende britische Jugendliche dicht gedrängt in den Lokalen "die letzte Nacht der Freiheit" begossen, ist seit Donnerstag in Pubs und Restaurants punkt 22 Uhr Sperrstunde. Lokalbesucher werden kurz davor von Polizisten freundlich, aber bestimmt darauf aufmerksam gemacht, ihre Gläser zu leeren und zu gehen. Die Gäste gehen dann häufig mit ihrem Glas einfach vor das Lokal und trinken dort weiter.

Die Maskenpflicht wurde in Großbritannien auf Taxis und Geschäfte ausgeweitet, die Regierung fordert Arbeitnehmer auf, wieder von zuhause aus zu arbeiten. Theoretisch könnte bald Militär zur Kontrolle zum Einsatz kommen. In Schottland und Nordirland gelten bereits strengere Regeln - dort dürfen sich bis auf wenige Ausnahmen keine Menschen aus verschiedenen Haushalten mehr miteinander treffen. Gesundheitsexperten sehen diese Maßnahmen als unvermeidlich auch für England an.

Dramatisch entwickelt sich die Lage in Spanien. Dort steigen die Infektionszahlen stark, Teile Madrids sind abgeriegelt. Am Freitag wurde die Zahl der vom Lockdown betroffenen Viertel von 37 auf 45 erhöht, damit dürfen mehr als eine Million Madrilenen nur noch mit guter Begründung ihre Wohngegend verlassen. Ein Drittel aller spanischer Covid-Spitalspatienten entfallen auf die Hauptstadt. Die Regierung hat einen Lockdown für ganz Madrid empfohlen - eine Maßnahme, die die Lokalpolitiker vermeiden wollen, die nach Ansicht von Experten aber unvermeidbar ist.

In Frankreich ist die Zahl der Neuansteckungen zuletzt auf den Höchststand von mehr als 16.000 binnen 24 Stunden gestiegen. Schutzmaßnahmen treten in Kraft, betroffen ist in erster Linie Marseille. Zuletzt wurden dort 281 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner registriert - das Sechsfache des Warnwerts. Deshalb müssen ab Samstag ausnahmslos alle Bars und Restaurants schließen.

Französische Lokalbetreiber proben den Aufstand

In Paris dürfen Bars und Restaurants bis 22 Uhr offenhalten. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo ist strikt gegen Sperrzeiten für Lokale, hat aber in diesem Bereich keine Handhabe. Abseits davon könnten in Paris, wie bereits in anderen französischen Städten, demnächst Versammlungen von mehr als zehn Menschen, etwa in Parks und auf Plätzen, untersagt werden.

In Marseille platzte zuletzt hunderten Gastronomen der Kragen, sie gingen auf die Straße und protestierten gegen die Schließung ihrer Lokale. "Rettet unsere Arbeitsplätze, rettet unsere Unternehmen", war auf einem Transparent vor dem Handelsgericht zu lesen. "Das Maß ist voll", so ein Restaurantbesitzer aus Aix-en-Provence, der ebenfalls zumachen muss. "Wir waren gerade dabei, wieder auf die Beine zu kommen." Eine Reihe von Gastronomen haben angekündigt, sich den Anordnungen zu widersetzen.

Hilfe bekommen sie vom Präsidenten der Region Provence-Alpes-Cote d’Azur, Renaud Muselier. Er will juristisch gegen die Einschränkungen vorgehen und sieht in ihnen eine "kollektive Bestrafung" für die rund 1,9 Millionen Menschen im Ballungsraum Marseille.

In Israel ist seit einer Woche ein Lockdown in Kraft, der am Freitag verschärft wurde. Die Zahl der Neuinfektionen ist bis zuletzt trotz aller Bemühungen nicht zurückgegangen, sie hat im Gegenteil erstmals die Marke von 7500 Fällen überschritten. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass sich viele Israelis, vor allem strengreligiöse, nicht an Besuchsverbote und Vorgaben zum Einhalten eines Mindestabstandes halten. .

Ab jetzt ist es in Israel nur noch Menschen aus Berufen, die als systemrelevant gelten, erlaubt, ihren Arbeitsplatz aufzusuchen. Der öffentliche Nahverkehr wird eingeschränkt. Nur in Ausnahmefällen dürfen sich die Menschen weiter als einen Kilometer von ihrem Zuhause bewegen.

Manaus - weltweit erster Fall von Herdenimmunität?

In der brasilianischen Stadt Manaus hat sich das Coronavirus enorm rasch ausgebreitet, jetzt stagnieren die Zahlen, ohne dass es dafür eine Erklärung gäbe. Für Virologen gibt es Hinweise, dass dort weltweit die erste Herdenimmunität entstanden ist. Sie halten es für möglich, dass sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung angesteckt haben.

1,8 Millionen Menschen leben in Manaus, Experten machen enge Wohnverhältnisse, schlechte Wasserversorgung und Gedränge im Nahverkehr für die zunächst hohe Ansteckungsrate verantwortlich. Man geht davon aus, dass in Manaus einer von 400 Infizierten an Corona gestorben ist. In Deutschland sind es 15 von 100.000 Infizierten. Experten halten Herdenimmunität deshalb für keine Strategie im Kampf gegen das Virus, sondern für ein Zeichen, dass die Regierung die Kontrolle über das Geschehen verloren hat.