Wo war eigentlich Donald Trump? Nachdem der amtierende US-Präsident am Mittwoch seinen Wahlsieg verkündet hatte - ohne, dass es belastbare Resultate gegeben hätte -, wurde es eine Zeit lang still um den Republikaner. In dieser Phase musste er registrieren, wie die Chancen auf einen Wahlsieg geringer wurden. Das geschah mit quälender Langsamkeit, aber scheinbar unerbittlich. Keine angenehme Lage für einen Mann, der laut eigener Einschätzung nichts mehr hasst, als zu verlieren.
Was genau hinter den Mauern des Weißen Hauses vor sich ging, war nicht klar. CNN berichtete, dass Trump nicht bereit war die Möglichkeit, dass er diese Wahl nicht gewinnen könnte, zu akzeptieren. Den Mittwoch habe er damit verbracht, "zornige" Telefongespräche unter anderem mit den republikanischen Gouverneuren Arizonas und Georgias zu führen. In beiden Staaten war zu diesem Zeitpunkt ein Kopf-an-Kopf-Rennen im Gange. Alle Bemühungen Trumps waren darauf gerichtet, die Rechtmäßigkeit des Votums in Zweifel zu ziehen. "Stoppt die Auszählung!", schrieb er am Donnerstag auf Twitter in Großbuchstaben. Kommentatoren stellten weltweit fest: Der US-Präsident untergräbt in seinem Land den prinzipiellen Glauben an die Demokratie - ein gefährliches Spiel.
Quälende Ungewissheit
Die nicht enden wollende Ungewissheit belastete auch die Nerven der US-Bürger. Das Land steht gespalten da wie noch nie, die letzten vier Jahre haben tiefe Gräben zwischen Trump-Befürwortern und -Gegnern aufgerissen. Der US-Präsident selbst hat nach dem Schließen der Wahllokale den Eindruck vermittelt, der politische Gegner sei dabei, den Wahlsieg zu "stehlen". Besorgte Anhänger des Republikaners machten sich prompt auf den Weg, um dem vermeintlichen Betrug entgegenzutreten. Die Stimmung heizte sich auf. Überall in den USA verbreitete sich die Angst, dass "Linke" jetzt sogar ganze Städte zerstören könnten. In Detroit versammelte sich eine Gruppe vor einem Auszählungsbüro und skandierte: "Stoppt die Auszählung." Die Demonstranten mussten von der Polizei abgehalten werden, in das Gebäude einzudringen.
In den umkämpften Staaten Nevada und in Arizona kam es ebenfalls zu Protesten von Trump-Anhängern. Etwa 200 zum Teil mit automatischen Gewehren und Pistolen bewaffnete Fans des Präsidenten versammelten sich in der Nacht zum Donnerstag vor einem Behördengebäude in Phoenix, in dem Wahlzettel ausgewertet wurden, das Gebäude wurde von Sicherheitskräften abgeriegelt.
Die Menge, die sich mehreren bewaffneten Sheriffs gegenübersah, skandierte: "Stoppt den Diebstahl", und: "Zählt meine Stimme", aber auch: "Schande über Fox." Der konservative Nachrichtensender "Fox News" und die Nachrichtenagentur AP hatten in der Wahlnacht einen Sieg Joe Bidens in Arizona vermeldet, obwohl zu dem Zeitpunkt erst 70 Prozent der Stimmen ausgezählt waren.
In den Sozialen Medien werden unterdessen Falschmeldungen verbreitet, die die Verunsicherung und das Aggressionsniveau steigern. Der Hashtag "stopthesteal" (Stoppe den Diebstahl) wird unter die massenhaften Beiträge gesetzt, die darauf abzielten, den Wahlprozess in Zweifel zu ziehen.
Auf die Erklärung von Trump, in der er seinen vorzeitigen Sieg ausrief, reagierte Facebook sofort: "Sobald Präsident Trump anfing, den Sieg vorzeitig zu erklären, haben wir auf Facebook und Instagram Mitteilungen gepostet, dass die Stimmenauszählung im Gange sei und es noch keinen Sieger gebe", erklärte das Unternehmen. Viele Anhänger des Präsidenten leben in der Vorstellung, von diffusen Personen oder Mächten übervorteilt zu werden. Trump hat ihnen das Gefühl gegeben, er habe sich um sie gekümmert und sie beschützt. Jetzt wollen sie für ihn einstehen und um seinen Sieg kämpfen. Die Ressentiments des Präsidenten gegen Einwanderer und seine deutliche Abneigung gegen Minderheiten dürften Teile seiner US-Wählerschaft in dem Glauben bestärken, dass hier jemand für sie kämpft.
Trump trifft den Nerv
Trumps Unterstützer "empfinden echte Zuneigung zu diesem Typen, trotz all seiner Fehler oder vielleicht gerade wegen seiner Fehler", sagte John Feehery von der Lobbygruppe EFB Advocacy der Nachrichtenagentur AFP. "Ich glaube, zum Teil liegt es daran, dass er so authentisch ist. Er sagt, was ihm durch den Kopf geht. Und die Leute hören das gerne." Zudem treffe er mit seinen Äußerungen einen Nerv bei jenen Wählern, die ein "Verlangen nach Nationalismus" haben, so Feehery.
Die Blockadetaktik des US-Präsidenten sorgt im Lager der Demokraten für Nervosität. In Oakland, Atlanta und Detroit gingen Demonstranten auf die Straßen. Sie verlangten, dass die Stimmenauszählung ungestört weitergehen könne, schwenkten US-amerikanische Flaggen und Transparente und skandierten: "Zählt jede Stimme. Jede Stimme zählt." Biden rief seine Anhänger zwar zur Geduld auf; in Portland an der Westküste wurden trotzdem US-Flaggen angezündet, es gab Aufrufe zum Aufstand.
Die Aussicht, dass Trump weitere vier Jahre im Weißen Haus sitzen könnte, sorgte für Unmut. Bewaffnete Aktivisten zogen vor das Gerichtsgebäude. In New York City kam es nach einem Bericht der "New York Times" zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizeibeamten. Die Polizei meldete, sie habe mehr als 20 Personen festgenommen, die einen friedlichen Protest hätten kapern wollen. Auch in Chicago und Philadelphia wurden Proteste gemeldet, in Minneapolis blockierten nach Angaben der "New York Times" mehrere hundert Demonstranten eine Bundesstraße.
Die US-Bundespolizei FBI hatte im Vorfeld der Wahl vor bewaffneten Zusammenstößen zwischen linken und rechten Aktivisten gewarnt. Selbsternannte, rechtsextreme Bürgerwehren wie die "Proud Boys" waren in der Nacht zum Donnerstag jedoch nicht zu sehen. Die Gruppierung ist davon überzeugt, dass weiße Männer in der westlichen Kultur von der Auslöschung bedroht würden. Das FBI hat diese Gruppe genau unter Beobachtung.
Schwarze Bürgerwehr
Parallel dazu gibt es bewaffnete afroamerikanische Gruppierungen, die durch betont aggressives Auftreten auffallen. Etwa die Mitglieder der schwarze Aktivisten-Gruppe "Not Fucking Around Coalition" (kurz: NFAC, sinngemäß: "Wir meinen es Ernst-Koalition"), die mehrere hundert männliche Mitglieder umfasst. Am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag, zogen sie dunkel gekleidet, vermummt und schwer bewaffnet im Gleichschritt zum "Stone Mountain", zu einem riesigen Granitfelsen in der Nähe von Atlanta. Die Nordwand des Felsens ist bekannt für ein umstrittenes Konföderierten-Denkmal und gilt als Gründungs- und Pilgerstätte des rassistischen Ku Klux Klan.
Mit der "Black Lives Matter"-Bewegung will man hier nichts zu tun haben, NFAC begreift sich als viel radikaler, als "schwarze Bürgerwehr". Verbal ist diese Radikalität in jedem Fall beträchtlich. So kursiert ein Video, in dem der Anführer der NFAC die "weiße Miliz" in Atlanta auffordert, aus der Deckung zu kommen und sich der Herausforderung zu stellen. Szenen, die einmal mehr die tiefe Kluft verdeutlichen, die quer durch die Vereinigten Staaten von Amerika geht.