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Ein Frieden, der im Kaukasus neue Konflikte birgt

Von Gerhard Lechner

Politik
Nach der Bekanntgabe des Waffenstillstands stürmten aufgebrachte Armenier unter anderem das Parlament.
© reuters/Vahram Baghdasaryan

Nach sechs Wochen heftiger Kämpfe um Bergkarabach haben Armenien und Aserbaidschan unter russischer Vermittlung ein Abkommen vereinbart. Es legitimiert die Gebietsgewinne Aserbaidschans - und löst in Jerewan heftige Proteste aus.


Am Ende blieb Nikol Paschinian, dem Premierminister Armeniens, nichts anderes übrig. Seit Wochen rannte die mittels Petrodollars hochgerüstete aserbaidschanische Armee gegen die Stellungen der Armenier im umkämpften Bergkarabach an. Dorf um Dorf ging verloren. Zuletzt eroberten die aserbaidschanischen Truppen die Stadt Schuscha, einen strategisch wichtigen Punkt. Im Krieg um Bergkarabach in den 1990er Jahren hatten aserbaidschanische Truppen von Schuscha aus das tiefer gelegene Stepanakert, Bergkarabachs Hauptstadt, beschossen.

Also signalisierten die Militärs der von Aserbaidschan abtrünnigen, von Armeniern bewohnten Region dem Premier: Es geht nicht mehr, es droht der Verlust ganz Bergkarabachs - jener Region, die in den 1990er Jahren von Armenien erobert worden war. Paschinian biss daraufhin in der Nacht auf Dienstag in den sauren Apfel - und unterzeichnete nach einer nächtlichen Videokonferenz unter Vermittlung des russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Dokument, das die Gefechte, die in Bergkarabach seit Ende September toben, beenden soll - und das Aserbaidschans bisherige Geländegewinne legitimiert. Bis zum 1. Dezember sollen weitere Gebiete unter aserbaidschanische Kontrolle kommen.

Leicht gefallen ist Paschinian das nicht: Ein "unsäglich schmerzhafter Schritt für mich persönlich und für unser Volk" sei seine Unterschrift unter das Abkommen gewesen, tat Paschinian auf Facebook kund. Erst nach einer "eingehenden Analyse der militärischen Lage" habe er in das Abkommen eingewilligt.

In Armenien bringt ihm das jetzt den Ruf eines Verräters ein: Tausende Menschen gingen in der Hauptstadt Jerewan auf die Straßen, beschimpften den Regierungschef und forderten seinen Rücktritt. Hunderte stürmten den Regierungssitz und das Parlamentsgebäude.

Alijew sieht "Kapitulation"

Im Regierungssitz verwüsteten die aufgebrachten Demonstranten die Büros und zerschmetterten Fenster. Erst spät erlangte die armenische Polizei die Kontrolle über die Regierungsgebäude wieder. Präsident Armen Sarkissian beeilte sich zu versichern, dass er von der Vereinbarung erst aus der Presse erfahren habe und dass mit ihm nicht gesprochen worden sei. Die kommenden Tage werden in Jerewan wohl hitzig werden.

Anders die Situation in Baku: Dort wurde die Vereinbarung auf den Straßen frenetisch gefeiert. Der diktatorisch regierende Präsident Ilham Alijew ließ seiner Häme über die armenische Niederlage freien Lauf: "Na, Paschinian, wo ist dein Status?", stichelte er im Fernsehen in Richtung seines armenischen Gegenübers.

"Solange ich Präsident bin, wird es keinen Status geben. Bergkarabach ist Teil Aserbaidschans", verneinte der Staatschef einen Sonderstatus für die Armenier in der offiziell zu Aserbaidschan gehörenden Provinz. Nikol Paschinian habe keine andere Wahl gehabt, als die "historische Vereinbarung" zu unterzeichnen. Dabei handle es sich "im Wesentlichen um eine Kapitulation".

Immerhin scheint die Waffenruhe diesmal, anders als bei den stets gebrochenen Feuerpausen seit September, zu halten. Alle Kämpfe an der Front sollen eingestellt worden sein. Damit das auch so bleibt, entsendet Russland, das sich erneut im Südkaukasus als Ordnungsmacht etabliert, Friedenstruppen. Die ersten vier Flugzeuge sind bereits mit Soldaten und gepanzerten Fahrzeugen in die Krisenregion geflogen. 2.000 russische Soldaten und umfangreiche Militärtechnik sollen den Waffenstillstand sichern - zumindest für fünf Jahre.

Putins Sprecher Dmitri Peskow warb gegenüber den Armeniern für das Abkommen. Das Dokument garantiere den Menschen eine sichere Rückkehr in ihre Wohnorte. Er hoffe, dass die Menschen die Vorteile eines Endes des Blutvergießens verstünden. Putin erklärte, die Feuerpause solle eine "dauerhafte" Beilegung des Konflikts ermöglichen.

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Das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben. Von einem Frieden ist man im Südkaukasus weit entfernt - nicht zuletzt auch dank der "Teile und herrsche"-Politik des ehemaligen Sowjetführers Josef Stalin. Der hatte die zu mehr als 90 Prozent armenisch besiedelte Region der aserbaidschanischen Sowjetrepublik zugeschlagen - und damit die ethnischen Konflikte angeheizt.

Reich durch Petrodollars

Aserbaidschan ist in dem Konflikt jedenfalls trotz seiner überraschenden militärischen Niederlage in den 1990er Jahren im Vorteil: Der rohstoffreiche Staat konnte - im Gegensatz zum armen Armenien - in den letzten Jahrzehnten seine Armee aufrüsten. Und er verfügt nicht nur über mehr Einwohner, sondern auch über einen mächtigen Verbündeten: Die Türkei, deren Außenminister Mevlüt Cavusoglu dem Land "von Herzen" gratulierte. Man werde den aserbaidschanischen "Geschwistern" weiter zur Seite stehen.

Armenien hat zwar mit Russland auch eine Schutzmacht. Doch der Kreml kann sich nicht leisten, in dem Konflikt Partei zu ergreifen. Russland ist selbst ein multireligiöses Reich. Ein Kampf an Seite der christlichen Armenier gegen die muslimischen Tataren könnte innerhalb des Riesenreiches Fliehkräfte aktivieren. Außerdem will man den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nicht allzu sehr brüskieren. Armenien steht alleine da.