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Kreml-Experte: "Russland will sich nicht mehr einmischen"

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Corona, Wirtschaftskrise, Proteste und ein Volksaufstand im Bruderland Belarus: 2020 ist für den Kreml ein schwieriges Jahr. Für militärische Ablenkungsmanöver fehlen ihm die Ressourcen und der Rückhalt im Volk, meint der Historiker Kortunow.


"Wiener Zeitung": Die Ära von US-Präsident Donald Trump endet am 20. Jänner 2021. Welche Erwartungen gibt es in Moskau an den designierten Nachfolger Joe Biden?

Andrej Kortunow: Donald Trump war Wladimir Putin näher als Biden. Nicht unbedingt aufgrund seiner Politik, sondern wegen seiner Weltsicht. Trump und Putin sind Isolationisten. Biden wird hingegen versuchen, die transatlantische Einheit zu betonen. Er wird über Werte und Multilateralismus sprechen -all das, was Putin für leeres Gerede hält. In der Praxis kann das aber auch Vorteile bringen.

Welche konkret?

Nehmen Sie etwa die gemeinsamen Interessen bei der Rüstungskontrolle - obwohl die Verhandlungen darüber nicht leicht sein werden, weil uns viele Streitpunkte trennen, wie die Frage des nuklearen Potenzials von Drittstaaten. Da gibt es Fallstricke. Positiv sehe ich zudem die Professionalität des Biden-Teams und die Rückkehr zu einer logischen, nachvollziehbaren Außenpolitik.

Und die Nachteile?

Biden wird mehr Wert auf Menschenrechte legen. Möglich, dass dadurch die Opposition in Russland, aber auch Russland-Gegner außerhalb des Landes, in erster Linie in der Ukraine, unterstützt werden, vielleicht auch in Georgien oder der Republik Moldau, oder die Opposition in Belarus. Ein Fragezeichen sind zudem die Sanktionen: Wird Biden die Trump-Linie weiterführen? Oder wird er den Sanktionsdruck auf Russland erhöhen?

In der Staatsduma knallten die Sektkorken, als Trump gewählt wurde. Erwartungen, die sich wohl nicht erfüllt haben?

Es war schon früh klar, dass Trump ein schwacher Präsident sein wird, der in punkto Russland wenig Handlungsspielraum hat. Deswegen wird auch bei Biden nicht die Frage sein, wie antirussisch oder prorussisch er ist. Sondern die Frage, ob er die Spaltung im eigenen Land überwinden kann. Wenn nicht, dann wird es vier Jahre so weitergehen wie unter Trump. Die ganz großen Sprünge wird es ohnehin auch unter Biden vermutlich nicht geben. Diese Aussicht besteht erst, wenn eine neue Generation an die Macht kommt, in den USA wie auch in Russland.

2020 war bisher ein schwieriges Jahr für Russland: Proteste in der fernöstlichen Stadt Chabarowsk, Krisen in vielen Nachbarländern wie in Belarus oder Kirgistan, dazu noch der Krieg in Bergkarabach. Russland übte sich in auffälliger Zurückhaltung, was Ihren Kollegen Wladimir Frolow dazu veranlasst hat, von einer "strategischen Wende der russischen Außenpolitik" zu sprechen. Hat er recht?

Dass sich Russland außenpolitisch zurückhält, zeugt davon, dass es keinen wirklichen Wunsch mehr gibt, sich in andere Länder einzumischen. Schlichtweg, um Ressourcen zu sparen, Risiken zu vermeiden und weder politische noch wirtschaftliche Verpflichtungen auf sich zu nehmen. Zumindest vorerst. Aber ich denke, das letzte Wort über eine neue Außenpolitik ist noch nicht gesprochen. Es gibt viele Ungewissheiten. Wie hart wird die neue US-Administration gegen Russland vorgehen? Wer wird der deutschen Kanzlerin Angela Merkel nachfolgen? In dieser Situation ist es schwer, eine Strategie zu entwerfen. Fakt ist, dass die Expansion in andere post-sowjetische Staaten inzwischen nicht mehr als gewinnbringende Aktiva, sondern als kostenintensive Passiva angesehen wird.

Das müssen Sie erklären.

Das bedeutet, dass man für jede Expansion bezahlen muss. Und zwar sehr viel. Sowohl ökonomisch als auch politisch - wirtschaftlich mit neuen Sanktionen, politisch mit einer Verschlechterung der Beziehungen zum Westen.

Zuletzt schien es aber doch so, als würde Moskau keine Gelegenheit auslassen, sich militärisch zu engagieren - Stichwort Ukraine, Syrien, Libyen. Was hat sich aus Sicht Moskaus geändert?

Russland leidet natürlich wie andere Länder unter der Pandemie. Die Ölpreise fallen. Es gibt innenpolitische Probleme, die Proteste in Fernost, die Wirtschaftskrise. Hinzu kommen die internationalen Reaktionen auf die Vergiftung des Oppositionspolitikers Andrej Nawalny mit Moskauer Unterstützung. Der sogenannte "Krim-Konsens", dass die russische Bevölkerung bereit ist, ihre Lebensqualität für außenpolitische Siege oder das, was sie dafür hält, zu opfern, funktioniert nicht mehr. Die Außenpolitik kann nicht mehr die Quelle der Legitimität für die russische Führung sein. Die russische Führung muss sich seinen inneren Problemen zuwenden.

Welche Szenarien verfolgt der Kreml mittelfristig für Weißrussland ?

Präsident Alexander Lukaschenko ist eine lahme Ente. Er muss gehen. Aber wie, ist noch nicht ganz klar. Das bevorzugte Szenario aus Kreml-Sicht: ein kontrollierter Machttransfer auf einen jüngeren Kandidaten, mit dem Moskau gut verhandeln kann. Das zweite Szenario lautet: Die Straßenproteste setzen sich durch und es kommt zu Neuwahlen. Das ist schlechter für den Kreml, weil er diesen Prozess weniger kontrollieren kann. Aber wenn das bedeutet, dass Weißrussland dadurch dennoch im geopolitischen Orbit Moskaus bleibt, als Teil des Unionsstaates, dann könnte der Kreml wohl selbst damit leben. Aber mir scheint, die Kreml-Instinkte weisen eher in die Richtung, dass Lukaschenko weiterhin unterstützt wird.