Zum Hauptinhalt springen

Venezuela: Kampf der Parallelwelten

Von WZ-Korrespondenten Tobias Käufer und Maria Ramirez

Politik

Am Sonntag wählt ein Teil von Venezuela ein neues Parlament. Der Rest stimmt über genau jene Wahlen in einer anderen Abstimmung ab. Auch Präsidenten und Volksvertretungen gibt es in dem Krisenstaat gleich doppelt.


Die Parlamentswahlen sind Teil des Interesses der Regierung, das Land machtpolitisch weiter monopolisieren zu wollen", sagt Octavio Salom. Er stammt aus dem Süden Venezuelas und hat als Nierenpatient das Vertrauen in den Staat verloren, weil er ständig um Behandlung und Medikamente kämpfen muss. Hier im Süden herrschen ohnehin andere Gesetze, seit die Regierung des sozialistischen Präsidenten Nicolas Maduro grünes Licht gegeben hat für einen umweltzerstörerischen Gold- und Diamanten-Bergbau, für Stahl- und Aluminiumwerke.

"Es gibt keine Garantie, dass die Wahlen transparent sind. Niemand kann das garantieren", sagt Salom. Während die Vorbereitungen für die umstrittenen Parlamentswahlen fast abgeschlossen sind, brechen im Land die Versorgungssysteme noch weiter zusammen. Es gibt kaum noch regelmäßig Trinkwasser im Süden Venezuelas, Gas für die Haushalte fehlt, die Zapfsäulen an den Tankstellen sind schon seit Jahren nur noch sporadisch gefüllt. Wenn es Benzin gibt, dann muss die schwer bewaffnete Armee die Ladungen gegen das eigene Volk beschützen. Bis zu vier Tage müssen Autofahrer manchmal in den kilometerlangen Schlangen warten.

Der Spritmangel im ölreichsten Land der Welt ist vielleicht das sichtbarste Zeichen des Versagens des venezolanischen Staates. Die Ölanlagen sind marode, Fachleute werden ins Ausland verjagt und durch linientreue aber wenig fachkundige Parteisoldaten ersetzt. Zuletzt musste sich Venezuela ausgerechnet aus dem Iran Öllieferungen kommen lassen, um für ein paar Tage über die Runden zu kommen.

Die USA ließen die Schiffe trotz Embargo durch. Tatsächlich hat die Blockade-Politik der USA in Folge der schweren Menschenrechtsverletzungen durch das Maduro-Regime die Lage noch einmal zusätzlich verschärft. Ursächlich für die katastrophale Lage im Land sind sie allerdings nicht.

Der Absturz der venezolanischen Ölindustrie und nahezu des gesamten privatwirtschaftlichen Sektors begann mit einer enorm unternehmerfeindlichen Politik. Das Ergebnis ist verheerend: Die Privatindustrie existiert praktisch nicht mehr oder nur noch auf dem Schwarzmarkt. Die staatlichen Unternehmen ächzen unter der Last von Bürokratie und Inkompetenz. Venezuela ist nicht in der Lage, sein eigenes Volk zu ernähren, obwohl das Land alle natürlichen Ressourcen dafür hätte.

Vor fünf Jahren haben die venezolanischen Wähler deshalb Maduros sozialistische Partei abgewählt. Bei den Parlamentswahlen 2015 gab es einen Erdrutschsieg für die konservativen Kräfte des Landes. Maduro schien am Ende, doch er entschied sich die Realitäten des Wählerwillens nicht zu akzeptieren. Zunächst regierte Maduro mit Sonderdekreten am Parlament vorbei, in dem er nicht mehr die Mehrheit hätte.

Zwei Jahre später ließ er eine verfassungsgebende Versammlung einberufen, die alle wichtigen Kompetenzen des Parlaments übernahm. So war die klare Niederlage umgangen, der Wählerauftrag ad absurdum geführt. Verfassungsjuristisch war das nicht zu beanstanden, doch ethisch war es eine Bankrotterklärung. Der Wähler hatte Nein zu Maduros Sozialisten gesagt, stattdessen bekamen sie ein Parallel-Parlament, in dem nur noch Vertreter aus dem Lager der Wahlverlierer von 2015 das Sagen hatten. Ein weiteres Jahr später stellte sich Maduro zur Wiederwahl, ohne ernsthaften Gegenkandidaten, denn alle aussichtsreichen Rivalen waren entweder in Haft, in Hausarrest oder im Exil - nur nicht auf dem Wahlzettel. So gewann Maduro dann auch die "Wahl".

Guaido als Parallelpräsident

Diesen umstrittenen Sieg Maduros nahm der junge Oppositionsführer Juan Guaido im Jänner 2019 zum Anlass, sich - ebenfalls durch die Verfassung gedeckt - zum Interimspräsidenten auszurufen. Der von den USA unterstütze Politiker argumentierte, dass Venezuela aufgrund der umstrittenen Wahlen führungslos sei, weil Maduro nicht der rechtmäßig gewählte Präsident des Landes sei. Guaidos steiler Aufstieg brachte Maduro einige Wochen lang in die Defensive, doch der Präsident konnte sich auf seine wichtigsten Bausteine in der Machtarchitektur verlassen.

Etwa die Armee und Polizei, laut Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty und auch laut Vereinter Nationen für außergerichtliche Hinrichtungen, für Folter und Mord verantwortlich. Sie stehen bisher treu hinter Maduro, allen flehentlichen Appellen Guaidos zum Trotz. Abweichler in Reihen der Militärs werden zur Abschreckung hart bestraft.

Parallelwahlen

Nun wird diesen Sonntag wieder das Parlament gewählt. Und wieder ist der Wahlgang umstrittenen. Die Anforderungen der EU, die bereit war, unabhängige Wahlbeobachter zu entsenden, lehnte Maduro als unannehmbar ab. Ein Großteil der Opposition entschied sich deshalb für einen Boykott der Wahlen. Sie seien nicht transparent, fair und gerecht. Maduros Sozialisten werden deshalb wohl das vor fünf Jahren krachend verlorene Parlament zurückgewinnen, denn sein eigenes Lager wird er aller Voraussicht nach an die Wahlurne bringen. Hinzu kommt, dass die Opposition zerstritten ist, nicht mit einer Stimme spricht. Und es gibt im Guaido-Lager hässliche Fälle von Korruption, die vieles an Glaubwürdigkeit gekostet haben. "Natürlich nehme ich an den Wahlen teil. Wenn es uns schlecht geht, dann wegen der US-Blockade", sagt Maduro-Anhängerin Sonia Sifontes aus San Felix. Wer zur Wahl geht, soll ein Lebensmittelpaket von der Regierungspartei bekommen.

Maduro-Gegner rufen zu einer Gegenwahl auf. Der "Consulto popular", eine Volksbefragung, die online und offline vom 5. bis 12. Dezember stattfinden soll. Die drei Fragen lauten zusammengefasst: "Befürworten Sie freie, gerechte und nachprüfbare Präsidentschaftswahlen?", "Lehnen Sie die vom Regime durchgeführten Wahlen am 6. Dezember ab?" sowie die Frage, ob die Wähler "den Auftrag erteilen, "notwendige Maßnahmen zu ergreifen, um die Demokratie zu retten, der humanitären Krise zu begegnen und das Volk vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bewahren".

Nicht wenige Beobachter erwarten, bei einem Wahlsieg der Sozialisten über die boykottierende Opposition, dass die Tage von Interimspräsident Juan Guaido gezählt sind. Ihm droht dann das Schicksal, das bisher jedem Herausforderer Maduros in den vergangenen Jahren widerfuhr: Juristische Verfolgung, Haft, Hausarrest oder Exil. Retten könnte Guaido nur eine breite Teilnahme des Volkes an der "Consulta popular" und eine deutlich niedrigere Wahlbeteiligung an den Parlamentswahlen. Dies ist auch für die EU wichtig, denn gelingt es Maduro nicht, seine Anhänger an die Urnen der eigenen Wahl zu bringen, verliert er seinerseits die politische Legitimation. Sein Gegner Guaido ist schließlich schon von mehr als 50 Ländern weltweit als das offizielle Staatsoberhaupt Venezuelas anerkannt.

Der Rest Lateinamerikas schaut mit großer Sorge nach Venezuela. Schon jetzt haben rund fünf Millionen Venezolaner wegen der katastrophalen Versorgungslage, der Korruption und der staatlichen Gewalt ihre Heimat verlassen. Sie bedeuten für die Nachbarländer eine große humanitäre Herausforderung, die sie in Zeiten der Corona-Krise kaum zu meistern in der Lage sind. Tatsächlich sind es die venezolanischen Migranten, die als Erste durchs soziale Raster fallen. Rekordarbeitsloszahlen in Nachbarländern machen ihre Lage nur noch verzweifelter. Doch die Chancen für einen Neuanfang in Venezuela stehen eher schlecht. Stattdessen ist es wahrscheinlicher, dass alles beim Alten bleibt. Maduro bleibt trotz der schweren Vorwürfe der UN und Menschenrechtsorganisationen im Amt, weitere hunderttausende Venezolaner packen die Koffer.