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Afrika-Experte: "Ich befürchte ein riesiges Blutbad in Äthiopien"

Von Konstanze Walther

Politik

Experte Martin Plaut über die vielschichten Hintergründe des Konflikts in der äthiopischen Region Tigray.


In Äthiopien herrscht bewaffneter Konflikt. Offenbar noch immer, auch wenn die Regierung von Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed schon längst die Niederschlagung des Protests in der abtrünnigen Region Tigray verkündet hat. Die dort bisher regierende Volksbefreiungsfront TPLF kündigte nämlich an, sie werde den Kampf fortsetzen. Seitdem wurde von Regierungstruppen ein UN-Konvoi beschossen, der in nicht genehmigte Gebiete vorstoßen wollte, und inzwischen haben sogar die USA die Berichte bekräftigt, dass es sich hierbei längst nicht nur um einen innerstaatlichen Konflikt handelt, sondern ausländisches Militär aus Eritrea ebenfalls auf äthiopischen Boden gegen die Tigriner kämpft - was aber von Äthiopien und Eritrea dementiert wird. Die äthiopische Regierung lehnt dezidiert eine internationale Untersuchung der blutigen Ereignisse der vergangenen Wochen ab. Mehrere tausend Menschen sind nach Schätzungen der International Crisis Group bei den Kämpfen bisher getötet worden. In Tigray waren fünf Millionen Menschen einen Monat ohne Strom, Telefonverbindungen und Grundversorgung, sie sind auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Fast 50.000 Personen flüchteten in den Sudan. Die EU hat vor dem Hintergrund des Konflikts einen Teil ihrer Hilfe für Äthiopien suspendiert. Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem Experten für das Horn von Afrika, Martin Plaut, über die Situation in Tigray.

"Wiener Zeitung": Bei Bürgerkriegen auf dem afrikanischen Kontinent wird oft auf die beliebige Grenzziehung durch die Kolonialmächte verwiesen, die verschiedene Ethnien zusammengewürfelt haben. Doch Äthiopien war niemals unter europäischer Herrschaft. Wieso existieren dennoch diese ethnischen Spannungen?

Martin Plaut: Weil der äthiopische Kaiser Menelik II., während sich die Europäer um ganz Afrika stritten, die Gunst der Stunde nutzte und sein eigenes Reich ausbaute. Im 19. Jahrhundert eroberte er die umliegenden Provinzen. Durch die neuen Grenzen kam es zur Machtverschiebung von der Volksgruppe der Amhara zu den Tigrinern. Dieser Vielvölkerstaat mit 80 verschiedenen Ethnien ist praktisch auf einen Schlag entstanden.

Klingt nach einer herausfordernden Verwaltungsarbeit.

Ja, und es gibt keine einfachen Antworten. In Äthiopiens Geschichte gab es dazu mehrere Modelle. Die darauffolgenden Regierungen von Kaiser Haile Selassie und danach die Militärdiktatur des Dergs haben einen starken Zentralstaat favorisiert. Damals sollten sich die Bürger vor allem als Äthiopier begreifen. Mit dem Sturz des Militärregimes 1991 haben allerdings die Tigriner die Macht im Staat übernommen, obwohl sie nur sechs Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie mussten sich eine Rechtfertigung ausdenken. Premier Meles Zenawi, ein brillanter Denker und Tigriner, hat sich für das Modell des ethnischen Föderalismus entschieden. Bundesstaaten durften formal autonom in der Föderation sein. Zenawi hat lokale Parteien erschaffen, die so ausgesehen haben, als wären sie aus der Region. Aber alle, die dort etwas zu sagen hatten, waren Pro-Tigray. Das ging nicht auf ewig gut, die Regionen sind immer stärker geworden.

Martin Plaut ist Fellow am Institute of Commonwealth Studies. Der in Südafrika geborene ehemalige BBC-Journalist hat zahlreiche Bücher über das Horn von Afrika veröffentlicht und gilt als anerkannter Experte. privat

2018 kam der erste Nicht-Tigriner an die Macht: Premierminister Abiy Ahmed ist Halb-Amhara und Halb-Oromo.

Die Oromo waren eine der ersten Ethnien, die von Menelik erobert worden sind. Oromo wurden früher "Gala" genannt, das bedeutet "Sklave". Noch in den 1930er Jahren war Sklaverei in Äthiopien Realität. Und Abiy will nun die Macht von den Tigrinern zurückerobern. Er will den Staat wieder zentralisieren, entfernte viele Tigriner aus staatlichen Ämtern, aber bekam starken Widerstand zu spüren, als er sie auch aus den Positionen bei Militär und Sicherheitskräften herausdrängen wollte. Die Lage war bereits gespannt, und dann verschiebt Abiy noch die landesweiten Wahlen.

Die Wahlen wurden von Abiy mit dem Hinweis auf das Coronavirus auf nächstes Jahr verschoben.

Wir dürfen nicht vergessen, dass Abiy formal noch nie gewählt worden ist, er kam über die Sammelpartei an die Staatsspitze. Tigray wollte die Wahlen nutzen, um ihn aus dem Amt zu jagen. Und so akzeptierte die Region auch den Aufschub nicht, und hielt eine Wahl ab - die laut Beobachtern auch relativ fair und frei abgelaufen ist. Die TPLF hat mehr als 90 Prozent erzielt. Das kam in der Hauptstadt Addis nicht gut an. Eskaliert ist die Situation, als Abiy einen neuen General im Nordkommando in Tigray einsetzen wollte. Die Tigriner setzten ihn postwendend ins nächste Flugzeug nach Addis zurück.

Diese Provokation war der Beginn des Konflikts, der offiziell lange kleingeredet wurde.

Was danach passiert ist, hängt davon ab, wem man Glauben schenkt. Die äthiopische Regierung sagt: Wir haben dann ein Flugzeug mit Banknoten in Tigrays Hauptstadt Mekelle geschickt. Hört sich relativ sinnlos an. Die Tigriner wiederum sagen, das Flugzeug war voll mit Spezialkräften, die den Befehl hatten, die tigrinische Führung zu finden und festzunehmen. Am 4. November entmachten die Tigriner endgültig das Hauptquartier des äthiopischen Nordkommandos. Die Soldaten schlossen sich daraufhin entweder den Tigrinern an, oder sie flohen über die Grenze nach Eritrea. Und der Krieg begann.

Abiy hatte zudem die Grenzen für die Fliehenden dichtgemacht. Plünderungen und Morde sind an der Tagesordnung. Die Menschen sind eingekesselt. Gegen wie viele bewaffnete Gruppen kämpfen die Tigriner derzeit?

Drei. Es gibt die äthiopische Armee im Süden und Osten, dann die eritreische Armee im Norden, und im Westen die amharische Miliz, die einen besonders schlechten Ruf genießt und aus der Geschichte heraus auch noch immer Groll gegenüber den Tigrinern hegt. Im November gab es in der tigrinischen Stadt Mai Kadra ein Blutbad, hunderte Zivilisten wurden massakriert. Abiy behauptet, die Verbrechen wurden von den Tigrinern begangen. Ich glaube das nicht. Meines Erachtens trägt das Massaker die Handschrift der amharischen Miliz.

Befürchten Sie einen Genozid?

Ich glaube nicht, dass es ethnische Säuberungen gibt. Ich befürchte aber, dass es ein riesiges Blutbad geben wird. Schon im letzten Grenzkonflikt mit Eritrea von 1998 bis 2000 starben hunderttausende Menschen. Es sind sicher ethnische Rivalitäten am Werk. Aber in diesem Konflikt geht es vorrangig darum, welche Form der Staat haben soll. Mit der Ethnie zu argumentieren, fällt besonders schwer, wenn man sich Eritrea und Tigray ansieht: Das ist ein und dieselbe Volksgruppe, sie sprechen dieselbe Sprache, sie heiraten einander. Und nun kämpfen sie gegen die eigenen Cousins.

Apropos Eritrea: Abiy hat 2019 den Friedensnobelpreis bekommen - vor allem, weil er mit Eritrea Frieden geschlossen hat. Heute kämpfen eritreische Soldaten offenbar Seite an Seite mit der äthiopischen Armee gegen die Tigriner.

Es steht meines Erachtens außer Frage, dass die Eritreer involviert sind, auch wenn sie es anfangs abgestritten haben. Es gab einen massiven Einberufungsbefehl in Eritrea. Die bringen das ganze Militär nach Äthiopien, das dann dort die Städte plündert.

Was ist die Motivation der Eritreer?

Es herrscht eine unglaublich lange Rivalität zwischen den Eritreern und den Tigrinern. Mal machten sie gemeinsame Sache, mal nicht. Bei der großen Hungersnot in Äthiopien, 1984 und 1985, haben die Eritreer die Grenze zum Sudan geschlossen und damit die Hilfslieferungen nach Tigray blockiert. Die Tigriner mussten sich tausende Kilometer zur Grenze schleppen, viele starben dabei. Das haben die Tigriner den Eritreern nie verziehen. Ein knappes Jahrzehnt später stürzten Eritrea und Tigray aber gemeinsam die Militärregierung des Dergs. Danach verschlechterten sich die Beziehungen wieder und es kam zu diesem langen Grenzkrieg. Der eritreische Machthaber Isayas Afewerki will die tigrinische Führung um jeden Preis weghaben. Das heißt nicht, dass er die Ethnie hasst, seine halbe Familie sind Tigriner. Es geht nur um Machtdemonstration.

Die Tigriner waren bei den Friedensverhandlungen zwischen Äthiopien und Eritrea unter Abiy komplett ausgeschlossen.

Sie waren nicht am Verhandlungstisch, aber sie waren der Grund für den Frieden. Denn auch Abiy wollte die Tigriner aus den Machtpositionen entfernen. Der Friedensvertrag war eine Verschwörung gegen die Tigriner.

Als Abiy an die Macht gekommen ist, wurde er von allen mit Lorbeeren bedacht. Er führte Reformen durch, ließ Gefangene frei, Oppositionelle durften wieder ins Land. Jetzt schließt er Grenzen und weist internationale Mediation als Einmischung brüsk zurück. Das sieht jetzt eher wie die Schablone des afrikanischen Despoten aus.

Ja, wir haben uns damals getäuscht. Es gab ein paar Dinge, die uns hellhörig hätten machen sollen. Etwa die Tatsache, dass er in den Rängen der äthiopischen Sicherheitskräfte groß geworden ist. Das waren noch nie besonders nette Menschen. Er hat am Anfang einfache Siege eingefahren und hat den Applaus genossen. Ich glaube, dass Isayas Afewerki ein schlechter Einfluss war. Der hat ihn womöglich überzeugt, dass er niemals Äthiopien regieren könne, solange die Tigriner in Machtpositionen sind.

Es gab aber bereits vor der Eskalation in Tigray-Konflikte: Im September waren bereits 1,2 Millionen Menschen als Binnenflüchtlinge in der Region unterwegs. Denn wenn der ethnische Föderalismus zurückgedrängt wird, sieht jeder seine Chance, sein Gebiet auszuweiten und Menschen zu verdrängen.