Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nach dem Urteil zur Freilassung des Oppositionspolitikers Selahattin Demirtas Scheinheiligkeit vorgeworfen. Dass das Gericht die Freilassung einer Person anordne, die eine Terrororganisation unterstütze, sei "Doppelmoral und Scheinheiligkeit", sagte Erdogan am Mittwoch in Ankara vor Anhängern seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP.

Die Entscheidung sei politisch motiviert. Das Gericht stelle sich damit hinter einen "Terroristen", so Erdogan. Der EGMR hatte am Dienstag die sofortige Freilassung des Oppositionspolitikers aus der Haft in der Türkei angeordnet.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Freiheit und Sicherheit seien unter anderem verletzt worden, urteilte das Gericht.

Das Gericht teilte am Mittwoch mit, es habe nach dem Urteil einen "großangelegten Cyperangriff" gegeben, der die Website des EGMR zwischenzeitlich lahmgelegt habe. Man verurteile den Vorfall scharf. Wer hinter dem Cyberangriff stand, war zunächst unklar.

Die Türkei müsse laut EGMR Demirtas zudem insgesamt 60.400 Euro zahlen, für Vermögensschäden, immaterielle Schäden sowie Ausgleich für Kosten und Ausgaben, so das Urteil. Der Anwalt des Politikers, Mahsuni Karaman, nannte die Entscheidung "historisch". Sie sei endgültig und verbindlich und Demirtas müsse sofort freigelassen werden, schrieb er auf Twitter. Damit sei zudem registriert worden, dass sein Mandant "vier Jahre lang aus politischen Gründen als Geisel gehalten wurde."

Vorsitzender der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP

Zur Zeit seiner Verhaftung Anfang November 2016 war Demirtas Vorsitzender der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP. Seine Immunität als Abgeordneter war im selben Jahr aufgehoben worden. Gegen den Politiker laufen zahlreiche Prozesse. Im Hauptverfahren ist Demirtas unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation angeklagt.

Hintergrund der Anschuldigungen sind unter anderem Proteste in der Türkei im Jahr 2014, zu denen die HDP aufgerufen hatte. Sie richteten sich gegen die Belagerung der syrisch-kurdischen Stadt Kobane durch die Terrormiliz IS. Die Proteste schlugen in Gewalt um, nach offiziellen Angaben wurden 39 Menschen getötet. Erdogan hält die legale Partei HDP für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die HDP weist das zurück.

Erdogan sagte weiter mit Bezug auf die Demonstrationen, Demirtas habe unter der "Maske eines Politikers" das Blut zahlreicher unschuldiger Menschen an seinen Händen. Er sei in den Augen der türkischen Nation schuldig.

Inzwischen liegt auch ein neuer Haftbefehl gegen Demirtas im Zusammenhang mit den Protesten vor. Der EGMR hatte am Dienstag erklärt, eine Fortsetzung der Untersuchungshaft in demselben Kontext würde eine Verlängerung der Verletzung von Demirtas' Rechten darstellen. Deshalb müsse Ankara alle nötigen Maßnahmen ergreifen, um Demirtas freizulassen. Die Türkei als Mitglied des Europarats muss Urteile des EGMR umsetzen. (apa,dpa)