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Im Container-Kerker

Von Sabine Ertl und Michael Schmölzer

Politik

Opfer des Corona-Lockdowns: Hunderttausende Seeleute sind auf ihren Schiffen gefangen. Auch zu Weihnachten.


Containerschiffe - das sind bis zu 400 Meter lange Stahlgiganten, die ihre Fracht quer über die Weltmeere transportieren. 90 Prozent des internationalen Warenverkehrs werden hier abgewickelt, hunderttausende Seeleute sind im Einsatz. Die Crews auf diesen Schiffen sind klein; rund 25 Personen, meist Männer, müssen die Riesen im Griff haben. Die Arbeit ist hart und gefährlich, da hat sich in den letzten hundert Jahren wenig geändert. Gerät so ein Schiff in einem Sturm, ist es ein Spielball der Naturgewalten, immer wieder reißen sich Container los, manchmal fallen hunderte ins Wasser - und begraben Besatzungsmitglieder unter sich.

Jeder Fehler kann hier tödlich enden. Wenn eines der Taue reißt, hat das die Wirkung einer Stahlpeitsche - rasch ist die ganze Hand abgetrennt. Der physische und psychische Druck auf die Mannschaft ist enorm, meist wird in Zehn- bis Zwölfstundenschichten gearbeitet, manchmal sieben Tage die Woche.

Warten auf die Ablösung

Die Corona-Krise sucht sich überall ihre Opfer, doch hat das Virus auf den Weltmeeren besonders fatale Folgen. 200.000 Seeleute sind derzeit gleichsam Gefangene auf ihren Schiffen, kommen nicht von Bord und müssen bis zur Erschöpfung weiterarbeiten, obwohl ihre Dienstzeit längst abgelaufen ist. Die Konzentrationsfähigkeit sinkt, die Fehleranfälligkeit steigt.

Das Problem besteht darin, dass die Pandemie das komplexe System des Schichtwechsels in der Seefahrt komplett außer Kraft gesetzt hat: Ein Seemann ist im Schnitt sechs bis neun Monate auf dem Meer, dann wird er abgelöst. Doch jetzt erreicht der ersehnte Ersatz das Schiff nicht, weil alle Flüge gestrichen sind - oder weil die jeweiligen Behörden keine Visa ausstellen. Manche Matrosen sind bereits seit 17 Monaten im Einsatz und arbeiten bis zum Kollaps weiter. Die nächste Crew wird verzweifelt herbeigesehnt, die Hoffnung aber immer wieder enttäuscht. Viele sind längst in eine Art Lethargie verfallen. Auch Weihnachten wird nicht, wie geplant, daheim mit der Familie verbracht, sondern auf dem Containerschiff-Kerker.

Die Besatzungen, vor allem die Arbeiter, bestehen zu einem Großteil aus Asiaten, zwischen 10.000 und 50.000 Filipinos sind auf den Weltmeeren unterwegs. Und während die eine Hälfte der Seeleute quasi als Gefangene auf den Schiffen festsitzt, kann die andere Hälfte nicht an Bord und dort die Arbeit aufnehmen - obwohl oft ganze Familien von der Heuer dieses einen Matrosen abhängig sind. Rund 1.400 bis 1.900 Euro verdient ein Bootsmann - das ist auf den Philippinen fünf Mal mehr als der Durchschnittlohn.

"Es ist ein Nadelöhr, wenn man zurück in die Heimat will", sagt Christian Denso vom Verband Deutscher Reeder im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Die Seeleute können in ihre Heimat, etwa die Philippinen, nicht hinein, es gibt sehr wenige oder gar keine Flüge von und nach diesen Ländern. Außerdem dürfen die Matrosen nur in ganz wenigen Häfen überhaupt von Bord gehen, um zum Flughafen zu kommen." Und wenn, dann gelten sehr aufwendige Regeln. "Der Flug muss dann genau nach oder binnen nach 24 Stunden nach Ankunft des Schiffes erfolgen, damit der Seemann schnell aus dem Land ist. Das ist oft nicht machbar", sagt Denso. Kommen die Seeleute dann doch daheim an, müssen sie in Quarantäne. 17 Monate auf hoher See - oder vor Anker im Hafen. Landgänge sind meist nicht drin, sie sind nicht erlaubt, weil die Gefahr zu groß ist, dass sich ein Matrose mit Corona infiziert.

Was eine Corona-Erkrankung auf einem Schiff, wo die Mannschaft dicht gedrängt über Monate zusammenlebt, bedeutet, ist hinreichend bekannt. Im April wurde das Virus auf den nuklearbetriebenen, hochgerüsteten US-Flugzeugträger "USS Theodore Roosevelt" eingeschleppt, binnen kürzester Zeit waren 1.000 Matrosen infiziert.

Quälende Ungewissheit

Die Situation auf den Containerschiffen ist enorm belastend, die Suizidrate unter den Seeleuten gestiegen. Genaue Aufstellungen darüber gibt es nicht. Wenn ein Mann plötzlich verschwindet, dann ist er über Bord gespült worden, es wird in der Rubrik Arbeitsunfall vermerkt. Viele wählen diesen Weg, weil die Familie dann eine finanzielle Entschädigung erhält. Die Einsamkeit ist für viele schwer zu ertragen, dazu kommen Heimweh und die Erschöpfung. Es geht an Bord sehr unpersönlich zu, angesprochen wird man hier prinzipiell nicht mit seinem Namen, sondern mit seiner Funktion. Mit Dauer des erzwungenen Aufenthalts an Bord steigt die Aggression, es kommt zu Konflikten und Feindseligkeiten.

"Das Schwierigste ist die Ungewissheit, wann man wieder zurückgehen wird. Oft geht es nicht darum, ob ich Weihnachten zu Hause sein werde, oder nächste Woche - die Frage ist vielmehr, ob ich es vielleicht nicht einmal bis Ostern schaffe", so Denso. "Die Leute wissen nicht, wie es ihren Familien geht, sie können bei Problemen in Zeiten der Pandemie nicht helfen. Vielleicht gibt es Todesfälle, Hochzeiten, Geburten. Sie sind sozusagen ausgeschlossen. Sie fahren irgendwo in der Welt herum. Das ist psychologisch nicht einfach, es geht für eine gewisse Zeit, aber dann nicht mehr."

Die Reedereien und Seemanns-Missionen versuchen, gerade jetzt zu Weihnachten zu helfen und die Not zu lindern "Die meisten deutschen Reedereien haben sehr schnell reagiert", sagt Denso und "ja, es gibt Satellitentelefonie an Bord, es wird vor allem über Soziale Medien Kontakt gehalten. Das wird ermöglicht, auch wenn es Kosten verursacht. Rein wirtschaftlich sind die Kosten für die Erhaltung des Schiffs so groß, dass, wenn der Reeder nicht blöd ist, dafür sorgt, dass an Bord die Stimmung gut bleibt. Ein Unfall oder Ärgeres würde viel Schlimmeres bringen. Rein monetär betrachtet. Die Verpflegung wurde ausgeweitet, man macht auch manchmal ein Barbecue, um den Leuten Abwechslung zu bieten und soziale Anlässe zu schaffen."

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"Am Ende bis Du allein"

Ein kroatischer Chefmaschinist, der sich in Quarantäne befindet und ungenannt bleiben will, fährt seit mehr als 15 Jahren zu See, wie er der "Wiener Zeitung" erzählt. Er weist darauf hin, dass es in erster Linie darauf ankommt, für welche Reederei man arbeitet. "Viele sind in Ordnung und korrekt, manche nicht", so der leitende Ingenieur. Letztere würden immer versuchen, Schichtwechsel zu vermeiden. "Der Flug muss bezahlt werden, die Hotelrechnungen und so weiter. Viele Firmen üben Druck aus, damit die Seeleute länger als die erlaubte Zeit an Bord bleiben." Und er bestätigt: "Die Offiziere auf den Schiffen sind Europäer, Ukrainer, Russen. Die einfache Mannschaft meist Filipinos. Die Europäer bekommen nie Probleme, die Filipinos schon."

Er selbst sei privilegiert, räumt der Kroate ein. Seine Kajüte umfasse 70 Quadratmeter inklusive Büro, meist gebe es Kino und Swimmingpool. Aber die quälende Einsamkeit teilt auch er mit den Matrosen: "Wenn die Arbeit vorbei ist und Du in Deine Kajüte kommst, bist Du alleine." Auch zu Weihnachten.

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Hintergrund

Die Vereinten Nationen (UNO) und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) fordern in einer Resolution, den Wert der Arbeit von Seeleuten stärker anzuerkennen und sie international als "systemrelevant" einzustufen. Diese galten bisher nicht als "wesentliche Arbeitnehmer", obwohl 90 Prozent aller Waren weltweit auf Schiffen transportiert werden. Die Verordnung ruft die UNO-Mitgliedsstaaten auf, kurzfristig Maßnahmen zu ergreifen, um einen Besatzungswechsel zu ermöglichen, Grenzformalitäten zu erleichtern und darüber hinaus die nötige medizinische Versorgung des Bordpersonals sicher zu stellen. Auch sollen die Seeleute früh geimpft werden, heißt es in der verabschiedeten UN-Resolution.

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