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Nobelpreisträgerin Ebadi: "Die Europäer lassen sich vom Iran täuschen"

Von Ronald Schönhuber

Politik
Shirin Ebadi hat sich jahrelang für eine Veränderung durch Reformen ausgesprochen. Nun fordert die ehemalige Richterin einen Regimewechsel im Iran.
© reuters / Philippe Wojazer

Im Interview erklärt Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, warum es keinen Unterschied macht, ob ein Reformer oder ein Hardliner Präsident im Iran ist. Von der EU erhofft sie sich ein deutlich schärferes Vorgehen gegenüber dem Regime.


Im Atomstreit gibt es nach dem Machtwechsel in Washington zumindest wieder ein bisschen Bewegung: Die USA haben sich diese Woche bereit erklärt, an den von der EU vermittelten Verhandlungen mit dem Iran teilzunehmen und auch die islamische Republik signalisiert Gesprächsbereitschaft - wenngleich Teheran derzeit vor allem auf die Aufhebung der US-Sanktionen drängt. Für Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi ist diese Fokussierung auf den Atomstreit allerdings problematisch, wie sie im Interview erklärt.

"Wiener Zeitung":Im Iran wütet das Coronavirus noch viel stärker als in den meisten anderen Ländern, die Wirtschaft wurde von den Sanktionen, die der frühere US-Präsident Donald Trump verhängt hat, massiv getroffen und die ganze Hoffnung, die es nach dem Atomdeal 2015 gegeben hat, scheint verfolgen. Wie wirkt sich all das auf den Alltag im Iran und die Stimmung der Menschen aus?

Shirin Ebadi: Die Menschen im Iran kämpfen mit großem Einsatz für Demokratie, sie haben die Hoffnung auf gar keinen Fall aufgegeben. Von der Europäischen Union, die ja die Verhandlungen im Atomstreit zwischen dem Iran und den USA begleitet und moderiert, erwarten wir aber, dass man nicht über die Menschenrechtssituation im Iran hinwegsieht, wenn man über das Nuklearthema spricht. Ich habe vor kurzem den Medien entnommen, dass der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell wegen den jüngsten Entwicklungen im Fall Alexej Nawalny die Verhängung von neuen Sanktionen gegen Russland ins Spiel gebracht hat. Und damit stellt sich für mich ganz eindeutig eine Frage: Warum verhält sich die EU gegenüber Russland so, aber nicht gegenüber dem Iran? Warum hat die EU die Ereignisse des Jahres 2019 ignoriert, als die Menschen im Iran in Massen auf die Straßen gegangen sind, um gegen die Regierung zu demonstrieren? 1.500 Menschen wurden während dieser Proteste getötet, und noch viel mehr wurden inhaftiert. Viele Schriftsteller, Journalisten, Rechtsanwälte und Mitglieder der Frauenrechtsbewegung befinden sich im Iran derzeit hinter Gittern. Die EU muss eines verstehen: Wenn der Kampf der Menschen im Iran erfolgreich ist und es Demokratie gibt, dann sinkt auch die Wahrscheinlichkeit einer iranischen Atombombe.

Wie wird sich die gegenwärtige Unzufriedenheit auswirken? Werden wir in den kommenden Monaten eine neue Eruption der Proteste sehen?

Die Menschen im Iran protestieren mehr oder weniger jede Woche gegen die Regierung - trotz all der Verhaftungen. Was im November 2019 passiert ist, war, dass in 77 Städten des Landes demonstriert wurde. Die Menschen wurden getötet, das Internet wurde vier Tage lange gesperrt, um die Proteste wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Bevölkerung hat all das nicht vergessen, und wir werden daher auch neue landesweite Proteste sehen, wenn sich die Situation nicht verbessert.

Im Juni dieses Jahres sind im Iran Präsidentenwahlen angesetzt. Amtsinhaber Hassan Rouhani, der im Westen als Reformer gilt, darf laut Verfassung nicht noch ein weiteres Mal antreten. Werden wir in vier Monaten den Gegenschlag der Hardliner und konservativen Kräfte sehen?

Das ist eine bewusste Täuschung des Regimes in Teheran und traurigerweise fällt Europa darauf hinein. Das System im Iran hat den Europäern glauben gemacht, dass Präsidentschaftswahlen Dinge im Land verändern oder dass alles sogar noch schlimmer wird, wenn ein Hardliner gewählt wird. Aber die Lage im Iran ändert sich mit einem anderen Präsidenten nicht. Basierend auf der Verfassung des Iran gibt es einen Obersten Führer, eine Position, die derzeit Ayatollah Ali Khamenei bekleidet. Und dieser Oberste Führer besitzt die absolute Autorität über alles, jede Entscheidung, sei sie nun innenpolitisch oder außenpolitisch, muss von ihm abgesegnet werden. Und das ist noch nicht alles. Jede Kandidatur für das Präsidentenamt benötigt die Zustimmung des Wächterrats, dessen Mitglieder ebenfalls vom Obersten Führer bestimmt werden. Der Präsident hat also keine echte Autorität, es spielt keine Rolle, wer gewählt wird. Wir müssen nur in die Vergangenheit blicken. Vor mehr als zwei Jahrzehnten gab es die goldene Ära unter dem damaligen Präsidenten Mohammad Khatami, der als Reformer galt. Und nicht nur Khatami war ein Reformer, auch im Parlament hatten die progressiven Kräfte die Mehrheit. Dennoch ist keine substanzielle Veränderung passiert. Europa wird seit 40 Jahren getäuscht und es wird sich wohl weiterhin täuschen lassen.

Sie waren eine starke Verfechterin der Idee, dass der Iran durch Reformen verändert werden soll. Nun treten Sie für einen Regimewechsel ein - wohl nicht zuletzt aufgrund der von Ihnen gerade angesprochenen Verfassungsrealitäten. Wie soll das passieren?

Bereits vor fünf Jahren habe ich die Abhaltung eines Referendums unter der Oberhoheit der Vereinten Nationen vorgeschlagen. Im Rahmen dieses Referendums soll die Bevölkerung gefragt werden, ob sie das gegenwärtige Regime und die derzeit gültige Verfassung weiter haben will oder nicht. Damit könnte die Verdrossenheit der Menschen mit dem System ganz eindeutig gemessen werden. In einem nächsten Schritt könnten vom Volk gewählte Vertreter eine neue Verfassung ausarbeiten.

Aber dieses Referendum wird nicht stattfinden. Zumindest nicht in den nächsten fünf bis zehn Jahren.

Damit das passiert, würde es schon reichen, dass die Europäer, die Weltgemeinschaft und überstaatliche Organisationen auf die Not der Menschen im Iran schauen, anstatt Diktatoren zu helfen. Derzeit sitzt ein iranischer Diplomat in einem Gefängnis in Europa, ein anderer iranischer Diplomat ist in der Türkei inhaftiert. Beiden werden terroristische Aktivitäten vorgeworfen. Seit 42 Jahren ist die iranische Regierung in Terroraktivitäten involviert, in die Tötung ihrer Gegner. Trotzdem unterhält die EU, die sich als Hüterin der Menschenrechte begreift, nach wie vor freundschaftliche Beziehungen zum Iran.

Wie wird das Verhältnis zwischen dem Iran und der neuen US-Administration unter Präsident Joe Biden aussehen?

Sicher ist, dass es keine Wiederholung der Obama-Ära geben wird. Aber es wird auch nicht so sein wie unter Trump. Es wird also irgendwo dazwischen liegen.

Wird es eine Rückkehr zum Atomdeal geben? Wird es einen neuen, einen überarbeiteten Atomdeal geben?

Es wird alles davon abhängen, inwieweit die USA ihren Druck auf den Iran aufrechterhalten werden. Der Iran ist immer zurückgewichen, wenn er unter Druck stand.

Also ist Ihrer Meinung nach auch ein neuer Vertrag möglich?

Ich kann das natürlich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, aber ich halte das für möglich.

Israel und die arabischen Länder schmieden derzeit engere Bande - nicht zuletzt deswegen, weil sie den Iran als gemeinsamen Feind betrachten. Wird das Auswirkungen auf die Politik im Iran haben?

Diese neue Einheit zwischen Israel und einigen arabischen Ländern ist ganz eindeutig das Resultat der falschen Politik im Iran. Der Iran hat Israel permanent bedroht, der Iran hat sich permanent in die Angelegenheiten arabischer Staaten eingemischt. Ohne diese Handlungen hätte es diese Allianz zwischen Israel und der arabischen Welt nicht gegeben. Ich kann natürlich nicht in die Zukunft schauen, aber bis zum heutigen Tag hat der Iran seine Vorgehensweise in der Region nicht verändert.

Sie leben seit mehr als zehn Jahren im Exil in London. Werden Sie irgendwann in den Iran zurückkehren?

Ich werde in den Iran zurückkehren, aber erst dann, wenn die iranische Bevölkerung gesiegt hat. Und dann werde ich als Anwältin arbeiten und nur als Anwältin. Ich werde kein anderes Amt anstreben.

Zur Person~ Shirin Ebadi wurde 1947 im Iran geboren und war nach ihrer Promotion von 1975 bis 1979 Richterin in Teheran. Nach der Islamischen Revolution durfte sie als Frau in diesem Beruf aber nicht mehr arbeiten. Ebadi war fortan als Anwältin tätig. Sie übernahm vor allem die Verteidigung von Dissidenten und Frauen. Ebadi wurde damit zu einer der prominentesten Figuren der zivilgesellschaftlichen Opposition im Iran und zum Feindbild des Regimes. 2003 wurde sie als erste muslimische Frau mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.