Wie viel sich in atmosphärischer Hinsicht geändert hat, wurde schon beim ersten Aufeinandertreffen offensichtlich. Die Stimmung bei der Videokonferenz zwischen dem neuen US-Außenminister Antony Blinken und seinen europäischen Amtskollegen Mitte Februar war sogar so gut, dass einige der anwesenden Diplomaten von einem "Fest der Liebe" sprachen.
Doch nicht nur der Umgang zwischen Europäern und Amerikanern hat sich nach den erratischen und konfrontativen Trump-Jahren geändert. Auch in der tatsächlich greifbaren Politik ist zwei Monate nach dem Machtwechsel in Washington etwas anders geworden. In einer akkordierten Aktion haben die USA, die EU, Großbritannien und Kanada zu Beginn dieser Woche Sanktionen gegen China wegen der Unterdrückung der muslimischen Uiguren verhängt.
Dass Europa die Volksrepublik wegen Menschenrechtsverletzungen mit Sanktionen belegt, hat es lange nicht gegeben - zuletzt hatte die EU nach dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens 1989 zu solchen Maßnahmen gegriffen. Und auch diesmal dürfte das Mitziehen der Europäer nicht zuletzt eine symbolische Geste an die USA gewesen sein. Blinken, der China ebenso wie der neue US-Präsident Joe Biden als zentralen globalen Gegenspieler begreift, war nach seinem Besuch bei den südostasiatischen Verbündeten Japan und Südkorea diese Woche zu den Nato-Partnern nach Brüssel gereist, um für einen schärferen Kurs gegenüber China Stimmung zu machen.
Good meeting with French Foreign Minister @JY_LeDrian, German Foreign Minister @HeikoMaas, and UK Foreign Secretary @DominicRaab today on Iran, Russia, China, and other pressing issues. The Transatlantic relationship is central to solving global challenges. pic.twitter.com/2UiH3YYVMh
Secretary Antony Blinken (@SecBlinken) March 24, 2021
Strategische Balance gesucht
Dass die EU nun Sanktionen gegen Peking mitträgt und mit den USA eine intensivere Abstimmung hinsichtlich des Umgangs mit China vereinbart hat, kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Europäer nicht unbedingt wohl in dieser Rolle fühlen. Denn eine der größten außenpolitischen Herausforderung für die kommenden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, dürfte für die EU darin bestehen, eine strategische Balance zwischen Washington und Peking zu finden, die sicherstellt, dass die Nähe zur einen Seite von der anderen Seite nicht als Kriegserklärung verstanden wird.
"Europa versucht derzeit mit aller Kraft, diese harte Entweder-oder-Entscheidung zu vermeiden", sagt Grzegorz Stec, Analyst bei der China-Denkfabrik Merics, zur "Wiener Zeitung". Starke Anknüpfungspunkte gibt es für Europa allerdings in beide Richtungen. Denn der viele Jahrzehnte alten transatlantischen Allianz, der gemeinsamen Wertebasis mit den USA und dem nach wie vor größten Absatzmarkt für europäische Unternehmen stehen auf chinesischer Seite das gewaltige ökonomische Zukunftsversprechen der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt gegenüber.
Und die Versuchungen sind für die Europäer vor allem in den vergangenen sechs Monaten nicht kleiner geworden. Denn noch bevor die neue US-Administration ihre große Charmeoffensive mit Blick auf Europa gestartet hat, wurde Ende Dezember mit dem Umfassenden Investitionsabkommen ein Projekt auf Schiene gebracht, über das Brüssel mit Peking zuvor sieben Jahre erfolglos verhandelt hat. Damit soll es nun einen deutlich besseren Zugang europäischer Unternehmen zum bis heute in vielen Bereichen noch stark abgeschotteten chinesischen Markt geben, gleichzeitig sollen die Wettbewerbsbedingungen angeglichen werden.
Die Ansichten, wie man sich im globalen Kräftemessen zwischen Peking und Washington am besten positionieren soll, sind in Europa zudem alles andere als deckungsgleich. So ist das Investitionsabkommen mit der Volksrepublik laut dem Politikwissenschafter und China-Experten Hanns W. Maull zuallervorderst ein Vehikel für die Interessen der deutschen Industrie. Deutschland sei hier in der EU ein Ausreißer, schreibt Maull im von der US-Handelskammer in Shanghai publizierten "Insight"-Magazin. So würde 50 Prozent der EU-Exporte nach China aus der Bundesrepublik kommen, bei den Ausfuhren in die USA betrage der Anteil dagegen nur 31 Prozent.
Der dritte Pol
Als Hoffnungsträger gilt die Volksrepublik, die nicht zuletzt im Zuge der mit dem 5G-Ausbau hochgekochten Spionage-Debatte und wegen des Vorgehens in Hongkong einen massiven Imageschaden erlitten hat, auch noch in Griechenland, Ungarn und Italien. Dort erhofft man sich Milliardeninvestitionen. Deutlich erkaltet ist die Begeisterung dagegen in vielen anderen osteuropäischen Ländern. Als der chinesische Staatschef Xi Jinping im Februar im Rahmen der 17+1-Initiative einen Video-Gipfel mit den osteuropäischen Staaten und den Balkanländern abhielt, schickten Bulgarien, Rumänien, Slowenien und die drei baltischen Länder nur Minister anstatt ihrer Regierungschefs.
Umso attraktiver erscheint angesichts dieser Gemengenlage das, was in europäischen Dipolmatenkreisen derzeit als der dritte Weg beschrieben wird. So macht sich vor allem Frankreich für eine ausreichende Äquidistanz zu Washington und Peking stark, um die eigenen Fühler besser in andere Weltregionen ausstrecken zu können. Im Fokus steht dabei vor allem die Indo-Pazifik-Region, die in wirtschaftlicher Hinsicht enormes Potenzial bietet. So soll dem Handelsabkommen mit Japan schon bald eines mit Australien folgen. Und noch im April will der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian nach Indien reisen, um die neue Indo-Pazifik-Strategie zu besprechen, die die EU gerade entwickelt.
Ob Europa tatsächlich als dritter großer Pol einer multipolaren Welt bestehen kann, ist freilich alles anderen als gewiss. So hat nicht nur Amerika, wie etwa die US-Sanktionsdrohung um die Nord-Stream-2-Pipeline gerade zeigen, ziemlich klare Vorstellungen davon, welche Rolle Europa im internationalen Konzert spielen sollte. "Auch China fühlt sich bereits stark genug, um nach den jüngsten EU-Sanktionen die Lage mit Vergeltungsmaßnahmen gegen Europa weiter eskalieren zu lassen", sagt Merics-Analyst Stec. "Denn Peking ist überzeugt davon, dass die EU die guten wirtschaftlichen Beziehungen erhalten will, und sieht dementsprechend einen Hebel im Verhältnis zu Europa."