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Auferstehung im Heiligen Land: Israel am Weg zur Normalität

Von WZ-Korrespondentin Agnes Fazekas

Politik
Die Impfkampagne läuft klaglos, dazu kommt, dass die Israelis krisenfest sind. Jetzt wird Pessach gefeiert.
© Fazekas

Israel hat die Pandemie im Griff, ein Großteil der Bevölkerung wurde rasch geimpft. Pünktlich zum Pessach-Fest macht sich gute Laune breit: Wer seinen grünen Ausweis vorweisen kann, dem stehen Cafés, Bars und Geselligkeit offen.


Tschicktschack", sagt ein Graulockiger zur Verkäuferin, während er Staudensellerie und Datteln vor ihr auftürmt. Es ist Freitagnachmittag vor Pessach bei einem Obsthändler in Tel Aviv. Die Rede ist von seiner zweiten Impfung. Termin war um 15.32 Uhr, um 15.34 Uhr stand er schon wieder auf der Straße. Die junge Frau hinter der Theke zuckt die Schultern. Sie sei noch nicht geimpft, sagt sie. "Erst mal abwarten." Im Obstgeschäft ist sie damit die Ausnahme. Über die Hälfte der israelischen Bevölkerung gilt bereits als durchgeimpft. Wer will, der bekommt die zwei Piekser. Auch die Termine vereinbart man "tschicktschak" über die App, wo und wann es passt. Vor drei Wochen feierten die Ärzte im Ichilov-Krankenhaus in Tel Aviv die Schließung der letzten Corona-Station.

Die einzigen Restriktionen bilden derzeit die verhängten Regale in den Supermärkten, in denen sich "Chametz" versteckt - "Gesäuertes", also Lebensmittel aus Getreide, das zu Pessach tabu ist. Draußen vor dem Gesher-Theater am Jerusalem-Boulevard sind alle Kaffeetische voll besetzt. Wer noch Maske trägt, hat sie hier lässig unterm Kinn hängen. Nicht wegen des Virus sitzt man draußen, sondern wegen der Frühlingssonne. Seit ein paar Tagen darf man wieder in Cafés und Restaurants - zumindest, wenn man den grünen Impfausweis auf dem Smartphone vorweisen kann.

Das Pessach-Fest erinnert Juden an die Befreiung aus der Sklaverei, in diesem Jahr jedoch feiert Israel vor allem die Rückkehr in die Normalität. Der Land gilt nicht nur als Impfweltmeister, sondern hatte zeitweise auch die höchsten Infektionsraten und mit die strengsten Lockdowns weltweit: Vor einem Jahr mussten die Israelis den Seder-Abend via Zoom feiern. Für das wichtigste Familienfest wurden strikte Ausgangssperre verhängt. Bereits in den Tagen zuvor durfte man das Haus nur noch für wichtige Erledigungen im 100-Meter-Radius verlassen. Die Restriktionen lösten eine feurige Debatte unter den Rabbinern aus: Sollten sie die Verwendung von Bildschirmen und Technologie erlauben, zugunsten des Seelenheils der Gläubigen? Einige Rabbis stellten schließlich fest, dass schon das allererste Pessach-Fest der Geschichte im Lockdown gefeiert wurde. Moses wies die Israeliten an, ihre Türpfosten mit Lammblut zu betupfen, damit die Todesengel ihre Kinder in Ruhe ließen, und fügte hinzu: "Keiner von euch soll bis zum Morgen vor die Tür seines Hauses gehen."

"Nie mehr ein Zoom-Seder"

Für Ami, 43, der vor dem Theater eine Zigarette raucht, steht fest: "Nie mehr ein Zoom-Seder!" Das traditionelle Lesen der Haggada vor dem Essen sei schon ohne technische Verbindungsprobleme eine Geduldsprobe in seiner vielköpfigen Familie. Der Universitätsangestellte arbeitet immer noch im Homeoffice, aber ansonsten sei doch fast alles normal. "Sogar in die Kletterhalle darf ich wieder", sagt Ami.

Ein Thema, über das dieser Tage kaum einer spricht, das sind die vergangenen Wahlen. Vielleicht, weil das Ergebnis keine allzu große Überraschung darstellte: Auch bei der vierten Parlamentswahl innerhalb zweier Jahre kam es wieder zu einem Patt. Trotz Korruptionsanklagen konnte Benjamin Netanjahu mit seiner Likud-Partei zwar an Stimmen vorlegen, aber wieder dürfte es schwer werden, eine stabile Regierung zu bilden. Selbst die "Corona-Notfall"-Koalition, auf die sich sein Rivale Benny Gantz vom Mitte-Bündnis Blau-Weiß nach der Wahl im März 2020 einließ, zerbrach an einem Haushaltsstreit.

Der Seder-Abend dürfte dazu der erste Samstag seit Mai gewesen sein, an dem sich nicht Tausende vor Netanjahus Residenz in Jerusalem versammeln, um gegen "König Bibi" und seine selbstherrliche Herrschaft zu protestieren. "Das muss man ihm lassen", sagt Ami mit Blick auf die israelische Impfkampagne. Und so denken wahrscheinlich gerade die meisten im Land. Zwar hat Netanjahu mehr um seine Position gekämpft als gegen die Pandemie: Es gab sehr viele Tote und gibt immer noch sehr viele Arbeitslose. Zwar wird ihm Bestechlichkeit in drei Fällen vorgeworfen; und seine Gegner vermuten, dass er sich alleine deshalb an die Macht klammert, um ein Immunitätsgesetz für sich durchzukämpfen. Doch wenn es um die Immunität Israels geht, hat er sich bewährt. Für 800 Millionen Dollar soll er bisher Vakzine eingekauft haben, und dreißig Mal soll er persönlich bei Pfizer-Chef Albert Bourla angerufen haben. Und nun will Israel weitere 30 Millionen Impfdosen bestellen, um für 2022 gewappnet zu sein - und bald kommt auch die Impfung von Teenagern.

Reibungslose Impfkampagne

Dass Netanjahu beim Deal mit Pfizer nicht nur wesentlich mehr Geld für den Impfstoff als andere Länder ausgab, sondern dabei auch noch bereitwillig die Daten aller Israelis zur Verfügung stellte, störte die Bürger wenig. Israelis sind es gewohnt, beim Tanken oder im Online-Shop die Personalausweisnummer einzutippen. Was anderswo als Eingriff in die Privatsphäre gilt, bedeutet hier Sicherheit. Der Staat sieht alles, auch die Bewegungen von Terroristen, hofft man. So gab es auch wenig Proteste, als der Geheimdienst die Verfolgung von Corona-Kontakten und Quarantäne-Pflicht übernahm - obwohl dabei einiges schiefging.

Die reibungslose Impfkampagne ist jedoch nicht nur Netanjahus Einsatz zu verdanken. Israels Bürger sind krisenfest. Wenn es ernst wird, reihen sich sogar die Tel Avivis brav in die Schlange ein. Hilfreich war aber vor allem das zentrale und voll digitalisierte Gesundheitssystem mit vier gesetzlichen Krankenkassen. Dazu ein gewisser Pragmatismus, der in Israel die Bürokratie bei Weitem überwiegt: Auf Facebook hatten sich schnell Gruppen gebildet, in denen ausgetauscht wurde, welche Impfzentren abends noch Dosen übrighatten. Und diese wurden dann von den Medizinern auch gern an Passanten verimpft. Sogar die sonst vernachlässigten Asylbewerber und Gastarbeiter aus Afrika und Asien im Süden Tel Avivs bekamen schließlich eine eigene Impfstation.

Dabei lagen die Corona-Hotspots nicht in der schnellen Party-Stadt, sondern in den Gemeinden der Ultraorthodoxen in der Peripherie oder in Jerusalem und in den arabischen Dörfern. Während Netanjahu bei den Protesten gegen seine Person hart einschreiten ließ - und zeitweise nur Mini-Demos im 100-Meter-Radius ums eigene Haus erlaubte -, versammelten sich die Ultraorthodoxen ungestört zu Feierlichkeiten und Beerdigungen. Um auch die Bevölkerungsgruppen zu locken, die gleichzeitig am skeptischsten der Impfung gegenüber sind, wurden die Krankenkassen kreativ: Die arabischen Israelis belohnten sie nach der Impfung mit Baklava, die Orthodoxen mit einem Schöpfer "Tschulent"-Eintopf - und die jungen Sorglosen in Tel Aviv mit freien Drinks in der Impf-Bar.

Heer an Essenslieferanten

"Was wohl jetzt aus denen wird?", fragt eine junge Frau mit Kinderwagen und zwei kleinen Mädchen an der Hand. Sie zeigt auf zwei türkis Uniformierte, die gerade beinahe ineinander gekracht sind. Einer sitzt auf einem E-Bike, der andere auf einem alten Rennrad. Beide haben das Telefon am Ohr. Auf ihrem Rücken tragen sie die Isolationsboxen des Lieferservice "Wolt".

Das Heer der türkisen Essenslieferanten schien in den vergangenen Monaten die Stadt übernommen zu haben. In den Lockdowns war nicht nur der Job heiß begehrt, auch die Uniformen wurden hochgehandelt. Als Tarnmäntel, in denen man sich frei bewegen konnte. "Für uns lohnt sich Wolt nicht, die nehmen zu viel Prozente", sagt die 36-jährige Noam. Ihr Mann führt nebenan das Mansura, ein hippes Restaurant, das er mit einem Freund in einer alten Autowerkstatt eröffnet hat. Vor der Pandemie gab es tolle erste Kritiken. Durchgehalten haben die zwei Küchenchefs nun nur mit viel Flexibilität und Erfindergeist. Sogar Eis hätten sie zwischendurch verkauft, erzählt Noam. Für kleine Feste gecatert. Immer wieder das Menü neu angepasst.

Immerhin: 4.000 Restaurants in Israel haben die Lockdowns nicht überlebt. Die anderen stehen nun vor einem neuen Problem. Viele sind auf Tage ausgebucht. Aber es gibt nicht mehr genug Kellner und Kellnerinnen. Scheinbar genießen einige der Studenten lieber noch ihre "Avtala", eine Art Arbeitslosengeld.

Welche Lokale und Geschäfte haben überlebt? Ein Thema, das auch Eszter und ihren Freund beschäftigt, als sie am Sonntag nach dem Seder über die Strandpromenade radeln. Das Wasser ist noch zu frisch, aber die Wiese und die Wege sind voll besetzt. Es wird gesportelt, spaziert und gepicknickt. Über das Wasser ziehen die bunten Kites der Surfer. "Hoffentlich bleibt es jetzt nicht so voll in Tel Aviv. Wo kommen die alle her?", fragt sich ihr Freund. Die zwei wohnen im schicken Norden Tel Avivs, aber jetzt wollen sie mal ganz in den Süden, und noch weiter, über die Altstadt von Jaffa hinaus nach Bat Yam. Dort leben hauptsächlich russische Juden. "Fühlt sich an wie eine Reise in ein anderes Land", findet Eszter. Ihr Fahrrad ist ganz neu, ein Geburtstagsgeschenk. "Ich hätte fast keins gefunden", erzählt ihr Freund. Fahrräder seien gerade Mangelware in der Stadt. "Dafür geben die Leute nun ihre Hunde zurück", witzelt er. Tatsächlich waren die Tierheime nach dem ersten Lockdown leer, weil so gut wie alle Hunde adoptiert worden waren.

Vom Kloster nach Disneyland

Die beiden drängen sich durch die Menschenmenge am alten Hafen von Jaffa, bleiben kurz stehen, um einem Akrobaten auf einem hohen Einrad zuzuschauen, der blind jongliert. Zwischen den Fischerbooten tutet das Ausflugsschiff. Es herrscht Festival-Stimmung. Ein Lächeln liegt auf den Gesichtern. So ganz geheuer sei ihr das alles noch nicht, sagt Eszter. "All die Menschen. Der Trubel!" Nach der langen Stille fühle sich das an, wie aus dem Schweigekloster nach Disneyland zu kommen. Und noch einen Wermutstropfen gibt es: Wie viele Israelis hat sie Familie im Ausland. Ihre Eltern leben in Ungarn, und dort sei die Situation gerade besonders kritisch: "Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, dass ich schon geimpft bin."

Aber man muss gar nicht übers Mittelmeer blicken. Während Israel das Land öffnete, wurden in den Palästinenserstädten im Westjordanland neue Lockdowns verhängt. Hier sind die Zahlen hoch wie nie, die Krankenhäuser völlig überlastet. Doch im Gegensatz zu Netanjahu kann Mahmoud Abbas die Palästinenser nicht mit einem Impfwunder auf seine Seite ziehen. Im Westjordanland und in Gaza ist man auf Almosen angewiesen. Dabei sind zumindest Israel und das Westjordanland aus epidemiologischer Sicht eine Einheit: Israel und die Palästinenser riefen im vergangenen Jahr abwechselnd ihre Lockdowns aus. Doch dazwischen besuchten arabische Israelis ihre Familien hinter der Grünen Linie zu Hochzeiten und Beerdigungen. Mehr als 100.000 Palästinenser wiederum pendeln zu israelischen Baustellen hinter dem Sperrwall. Manche mit Genehmigung, andere durch Löcher im Sperrwall - dazu verdingen sich viele in jüdischen Siedlungen im Westjordanland. Während die Siedler oft im Kernland arbeiten. Es stünde also nicht nur in der moralischen Verantwortung der Besatzer, die Besetzten mit Impfstoff zu versorgen, sondern auch im eigenen Interesse, finden daher die Kritiker. Immerhin werden nun an den Militär-Checkpoints wenigstens Palästinenser geimpft, die mit Genehmigung in Israel arbeiten - in Tel Aviv zum Beispiel am neuen Trambahn-Netz.

"Immerhin, diese Baustelle ist vorangegangen in den Lockdowns", sagt Eitan. Er selbst war durchgehend im Büro. Als Mitarbeiter eines Tech-Start-ups galt er als "unverzichtbarer" Angestellter. Für den Abend hat er sich mit Freunden im Ausgehviertel Florentin verabredet. Schon das zweite Mal seit der Öffnung. Das erste Mal hätten sie alle einen gewaltigen Kater gehabt, lacht sein Freund. "Wir haben das Feiern verlernt."

Bei Schnaps und Bier

Diesmal haben Eitan und seine Freunde draußen vor einer der Bars am Gewürz-Markt einen Tisch ergattert. Schon vor der Öffnung saß man hier bei einem Bier aus dem Straßenverkauf, aber immer noch sieht es in Florentin aus wie auf einem Nachbarschaftsfest. "Eigentlich nett, dass man jetzt mehr vor den Bars sitzt wie in Europa", findet Eitans Freund und bestellt eine Runde "Chaser". Der Anisschnaps wird hier als "Begleiter" zum Bier getrunken und nicht umgekehrt, weil das Bier so teuer ist in Israel. Nach dem zweiten Chaser werden Pläne geschmiedet. Einer der Anwesenden hat gehört, dass endlich die Grenze zu Ägypten geöffnet werden soll - und damit zum Sinai, einem Lieblingsziel für den Kurzurlaub. Auch Griechenland akzeptiert die grünen Gesundheitspässe aus Israel. Eitan blickt auf das Gewusel zwischen Lilas Pizzatheke und der California-Bar: "Ein bisschen Chillen wäre schon gut", sagt er.