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Abzug aus Afghanistan: "Für viele wirkt es wie eine Niederlage"

Von Michael Schmölzer

Politik

Die USA sind um Gesichtswahrung bemüht, hinterlassen aber ein ungelöstes Problem. Der Experte Markus Gauster im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".


Bis zum 11. September 2021 wollen die USA aus Afghanistan abgezogen sein, die meisten Nato-Verbündeten und die vor Ort befindlichen Österreicher werden es ihnen wohl gleich tun. 20 Jahre war man am Hindukusch, der Rückzug war bis zuletzt aufgeschoben worden, um eine Rückkehr der Taliban an die Macht zu verhindern. Die "Wiener Zeitung" hat mit dem österreichischen Experten Markus Gauster über die Lage und Zukunftsszenarien gesprochen.

"Wiener Zeitung":US-Präsident Joe Biden sagt, das amerikanische Engagement in Afghanistan sei ein Erfolg, man habe dort viele Ziele erreicht. Sein Außenminister Antony Blinken wiederholte das bei seinem Besuch in Kabul. Kann man das wirklich so sagen?Markus Gauster: Man muss sich vor Augen halten, dass die USA einen gesichtswahrenden Abzug bewerkstelligen wollen. Für viele wirkt es jedoch wie eine Niederlage. Die Unsicherheiten und Armut sind gestiegen und Hungersnöte drohen. Allein wenn wir bedenken, welche Mittel nach Afghanistan geflossen sind, was der Krieg in Afghanistan gekostet hat.

800 Milliarden Dollar, kann man das in dieser Größenordnung ansetzen?

Es gibt Zahlen, die sprechen von bis zu 2 Billionen Dollar. Man muss auch die psychischen Kriegsfolgen einbeziehen, unter denen Soldaten leiden. Jetzt stellt sich auch die Kosten-Nutzen-Frage. Und es stellt sich die Frage, was bleibt in Afghanistan? Darunter fällt auch die Aufgabe, die afghanische Armee auszubilden.

Wie ist es Ihrer Ansicht nach um diese afghanische Armee bestellt? Die gilt ja als korrupt und nicht sehr kampfstark.

Die afghanische Armee ist seit 20 Jahren im Aufbau begriffen, das Ziel war, die Zahl von 300.000 Mann und auch Frauen zu erreichen. Diese offiziellen Zahlen sind immer mit Vorsicht zu genießen, es gibt eine hohe Desertionsrate. Grundsätzlich haben die USA versucht, auf Spezialkräfte zu setzen. Afghanistan ist eine Stammes- und Clangesellschaft, da gibt es Rivalitäten. Es gilt das Prinzip des Aufstands gegen jeden Besatzer. Die Loyalitäten wechseln. Auch das ist relevant, wenn es um die Armee geht. Ich bin loyal dem gegenüber, der mich bezahlt, aber ich verteidige meinen Stamm mit meinem Leben. Bei den Taliban haben wir einen Sponsor - vor allem Saudi-Arabien - , eine Zielsetzung - die Errichtung des "Islamischen Emirats Afghanistan" - und eine ideologisch-religiöse Motivation, die stärker ist als jeder ausländische Soldat, der von ihnen als Besatzer gesehen wird.

Aber diese Stämme haben ja auch nicht unbedingt ein Interesse daran, dass die Taliban wieder an die Macht kommen.

Da spielt die Topografie eine große Rolle, da gibt es von Tal zu Tal und von Berg zu Berg verschiedene Loyalitäten. Es zählt nicht nur die Zahl der Kämpfer, sondern die Motivation. In den 1980er-Jahren haben kleine Guerilla-Einheiten ausgereicht, um einzelne Täler gegen die Sowjets zu verteidigen. Was jetzt gerade passiert, ist, dass eine mögliche Anti-Taliban-Koalition bei viel Tee beratschlagt. Und dabei werden neue Loyalitäten gebildet. Es hat diese Zusammenschlüsse bereits gegeben, ich spreche von einer neuen Nordallianz. Es gibt derzeit auch Gespräche, wie man ein politisches Gegengewicht zu den Taliban bilden kann und welche diplomatische und finanzielle Rolle die USA über das offizielle Abzugsdatum hinaus dabei spielen können.

Es gibt noch rund 2.500 US-Soldaten in Afghanistan. Dazu kommen über 7.000 Soldaten der internationalen Ausbildungs- und Beratungsmission Resolute Support. Das Argument war, dass ein Abzug nicht möglich ist, weil dann einfach alles zusammenbricht. Aber wie können so wenige Soldaten eine derartige Rolle spielen? Sind die organisatorisch so wichtig, um eine relative Stabilität halbwegs aufrechtzuerhalten?

2010/11 hatten die USA 120.000 Soldaten im Land, plus 30.000 Soldaten aus anderen Ländern, darunter auch vom Österreichischen Bundesheer. Aber diese Zahlen spielen keine so große Rolle. Wir befinden uns ja nicht in einer konventionellen Schlacht. Für die Amerikaner geht es vor allem darum, wie sie ihre Stützpunkte halten können. Da brauche ich nicht so viel an Personal. Es geht um geheimdienstliche Informationsgewinnung, unbemannte Flugobjekte, Drohnen, Cyberattacken, konventionelle Luftschläge und Diplomatie. Meine These ist, dass die USA mit einer Minimalpräsenz vor Ort bleiben werden.

Ein offizielles Hauptziel Washingtons war ja immer, dass kein Terroranschlag von afghanischem Territorium aus gegen die USA mehr möglich sein soll. Deshalb werden US-Geheimdienstler die Lage weiterhin zumindest beobachten.

Ein wesentlicher Faktor ist, dass man weiterhin eine Basis dort hat. Da geht es auch um China, das eine 70 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan hat und dort seltene Erden abbaut. Es geht auch um den Disput mit dem Iran. Wenn ich das Land komplett aufgebe, dann werden andere das Machtvakuum füllen. Dazu gehören die Taliban, dazu gehört Pakistan und dazu gehören auch China und Iran.

Die Rede ist von einem Bürgerkrieg, von Terrorismus, und davon, dass die Taliban wieder an die Macht kommen. Es gibt ja das Beispiel Mohammed Nadschibullah, der von den Sowjets unterstützt wurde und dann den Taliban zum Opfer gefallen ist.

Die Sowjets zogen aus Afghanistan ab, dann wurde das Nadschibullah-Regime zwei oder drei Jahre weiter finanziert, dann ist die Sowjetunion implodiert. Wenn man das mit heutigen Verhältnissen vergleicht: Natürlich können die USA ihren Einfluss weiter bezahlen, doch es ersetzt keine Militärbasis. Unter den Taliban hat es zudem ein gewisses staatlich organisiertes System gegeben, das aus westlicher Sicht freilich völlig steinzeitlich war.

Der Rückzug der USA und der Nato spielt den Taliban massiv in die Hände.

Absolut. Auch die Friedensverhandlungen haben den Taliban genutzt. Dadurch haben sie an politischer Reputation gewonnen. Sie sind bereit, Macht zu übernehmen.

Sie glauben die These nicht, wonach sich die Taliban zum Besseren gewandelt haben?

Ich sehe nicht viel, was sich da geändert haben könnte. Die Ideologie ist nach wie vor die gleiche. Man strebt ein islamisches Emirat an. Hier wird keine andere Partei oder Macht geduldet. Das heißt, es geht leider in Richtung Bürgerkrieg, denn die vielen Milizen und Warlords werden sich aus Interesse an ihrem eigenen Überleben entsprechend wehren.

Es wird sich also wieder eine Art Nordallianz bilden wie vor 2001, vereinigte Stämme, die sich den Taliban widersetzen?

Ja, das ist ein realistisches Szenario und das mit ausländischer Unterstützung. Die CIA hat 2001 die Nordallianz massiv unterstützt. In diese Richtung könnte es gehen. Jetzt gilt es, Zeit zu gewinnen, um ordnungsgemäß abziehen zu können. Ein Abzug, der sehr komplex ist. Auch für die europäischen Truppen läuten die Alarmglocken. Österreich hat ja bis zu 20 Soldaten im Einsatz.

Was genau haben die 20 Österreicher in Afghanistan gemacht?

Wir sind seit 2001 dort, zuerst mit Spezialkräften. Dann folgte Stabsarbeit im Rahmen der Isaf im kleinen Rahmen. Nach dem Start der Resolute Support Mission 2015 ging es um das Training und die Ausbildung gefechtstechnischer Grundlagen für die Afghanische Armee, Gebirgsausbildung und Beratung auf höherer Ebene. Dabei ist es wichtig für das Gelingen, afghanischen Soldaten gleichberechtigt auf Augenhöhe zu begegnen, was die österreichischen Soldaten aufgrund jahrzehntelanger Auslandserfahrung gut umsetzten. Für die Erreichung von umfassender Stabilität sind aber viele weitere Faktoren einzukalkulieren, wie der Faktor Loyalität und pünktliche Bezahlung. Im schlechtesten Fall wenden die Armeesoldaten das, was sie gelernt haben, gegen den Staat an.