Zum Hauptinhalt springen

Ein Fanal ungleicher Verhältnisse

Von WZ-Korrespondentin Inge Günther

Politik
Israelische Sicherheitskräfte und Palästinenser beim Damaskus-Tor in Jerusalem.
© reuters / Zvulun

Jüdische Siedler fordern Häuser in Ost-Jerusalem zurück und wissen das Gesetz auf ihrer Seite. Unruhen sind die Folge.


Wenn am alljährlichen Jerusalem-Tag israelische Nationalisten zu ihrem Flaggenmarsch aufbrechen, bleibt palästinensischen Ladeninhabern in der Altstadt und dem nahegelegenen Viertel Scheich Dscharrah im Ostteil der Stadt meist nur eines übrig: Auslagen rein und Türen verrammeln. Das Spektakel ist berüchtigt. Vor allem junge Siedler und rechte Hooligans ziehen dann - ihre blau-weißen Fahnen schwenkend und Parolen wie "Tod den Arabern" grölend - durch die Gassen. Das ist ihre Art, Israels Einnahme von Ost-Jerusalem im Sechstagekrieg von 1967 zu feiern.

Die Polizei hat in diesem Jahr die erlaubte Teilnehmerzahl an der Parade zwar auf 10.000 begrenzt und an den neuralgischen Ecken ein Großaufgebot an Sicherheitskräften in Kampfmontur postiert. Doch schon am Montagmorgen kommt es in und rund um die Altstadt zu heftigen Zusammenstößen, bei denen über 200 Palästinenser teils schwer verletzt werden. Kurzfristig verfügt Israel, diesmal keine jüdischen Besucher auf den Tempelberg, im Islam als Haram al-Scharif (Erhabenes Heiligtum) verehrt, zu lassen, wo sich Al-Aksa-Moschee und Felsendom befinden. Eine Maßnahme, die der Deeskalation dient, aber die jüdischen Tempelbergverfechter erst recht aufbringt und zur Beruhigung der palästinensischen Gemüter nicht ausreicht.

Delogierung droht

Nach drei Nächten gewalttätiger Unruhen goss der Montag, an dem viele Israelis die Wiedervereinigung Jerusalems zelebrieren, noch einmal Öl ins Feuer. Entzündet haben sie sich in Scheich Dscharrah, auf das sich der wieder aufgeflammte Nahostkonflikt derzeit wie in einem Brennglas fokussiert. Mittendrin leben etwa die al-Kurds zu siebt in einem bescheidenen Flachbau. Eine von vier palästinensischen Familien, die hier seit über sechzig Jahren Wohnrechte besitzen, aber fürchten müssen, demnächst auf die Straße gesetzt zu werden. Schon beim Gedanken daran, sagt Nabil Said al-Kurd, 77, "brennt in mir eine ohnmächtige Wut, die ich kaum ausdrücken kann".

Die Israelis von gegenüber, Mitglieder einer ultrarechten Siedlergruppe, lauern geradezu darauf, auch ihre Häuser zu übernehmen. Ihr erklärtes Ziel ist, den arabischen Stadtteil zu "judaisieren", um, so Arieh King, derzeit Vizebürgermeister und einer ihrer Idole, "ganz Jerusalem zu erlösen". Immer wieder kam die Siedlerlobby vor Gericht auch damit durch, Räumungstitel gegen arabische Alteingesessene zu erwirken. Wenn es nach ihr geht, müssen bis August weitere 200 Menschen ihre Wohnungen räumen.

Doch diesmal hat sich ein ungeahnter Widerstand formiert. Scheich Dscharrah ist zu einem Fanal ungleicher Verhältnisse geworden, die den Israelis Vorrechte über palästinensische Bewohner gestatten. Praktiziert wird das seit Jahrzehnten. Die Siedlerlobby weiß das israelische Gesetz dabei auf ihrer Seite. Es erlaubt, im Namen vormals jüdischer Besitzer, die im Unabhängigkeitskrieg von 1948 nach West-Jerusalem geflohen waren, Grundstücke und Häuser im Ostteil der Stadt zurückzufordern. Umgekehrt gilt das für Palästinenser, die im Westteil Besitz zurücklassen mussten, nicht.

Doch diesmal hagelt es auch international Proteste. Selbst das Weiße Haus äußert sich besorgt über die drohende Räumung in Scheich Dscharrah und appelliert an die Regierung Benjamin Netanjahu, eine Eskalation am Jerusalem-Tag zu vermeiden. Dass Israels Oberstes Gericht die eigentlich für Montag vorgesehene Anhörung zur Räumungsklage auf den 8. Juni vertagt hat, kommt dem entgegen. Aber nicht nur Palästinenser, auch die linke israelische Bürgerrechtsgruppe B’Tselem halten das für einen "taktischen Schritt", der am geplanten Rausschmiss der Alteingesessenen in Scheich Dscharrah letztlich nichts ändern werde.

Route verkürzt

Dort kreuzen am Mittag zwei Knesset-Abgeordnete aus dem rechtsextremistischen Bündnis "Religiöser Zionismus" samt Gefolge auf, um gegen die "Blamage" des höchstrichterlichen Aufschubs zu wettern. Wer in arabisch-israelischen Parteien potenzielle Regierungspartner sehe, giften sie, müsse sich nicht wundern, "Terror zu ernten". Angesichts des steigenden Spannungspegels entscheidet Israels Polizeichef Kobi Schabtai dennoch am Nachmittag, quasi in letzter Minute, die genehmigte Route des Flaggenmarschs zu verkürzen. Das Ost-Jerusalemer Damaskustor sowie das moslemische Altstadtviertel wird zum No-Go-Areal erklärt.

Straßenschlachten

Rundum ist die Lage anders auch nicht mehr unter Kontrolle zu bringen. Immer wieder brechen Straßenschlachten zwischen jungen Palästinensern und Sicherheitskräften aus. Die Zahl der Verletzten steigt auf weit über 300, unter ihnen ein türkischer Journalist und mindesten zwanzig Polizeibeamte. Nur knapp endet ein besonders heikler Vorfall ohne Tote. Um Steinwürfen zu entgehen, rammt ein israelischer Autofahrer beim Rücksetzen in eine palästinensische Menge. Wutentbrannt versuchen einige, den Mann und einen weiteren Passagier aus dem Wagen zu ziehen, woraufhin ein herbeieilender Polizist scharfe Schüsse in die Luft feuert.

Wenn Israel nicht bis 18 Uhr Ortszeit seine Truppen vom dem Al Aksa-Gelände abziehe, droht die radikalislamische Hamas offen, werde man zum Angriff übergehen. Nahezu pünktlich auf die Minute ertönte in Jerusalem Raketenalarm. Im Umkreis der Stadt waren Einschläge zu vernehmen. Ein Hamas-Sprecher erklärt sie als "Antwort auf feindliche Aggression in der heiligen Stadt und gegen unsere Leute in Al Aksa und Scheich Dscharrah".

In der Hafenstadt Aschkelon, weniger als 20 Kilometer vom Gazastrefen entfernt, hat der Bürgermeister bereits zuvor für den Fall massiven Beschusses die öffentlichen Bunker öffnen lassen. Auch der Flugverkehr von und zum Ben-Gurion-Airport wird vorsichtshalber auf eine nördliche Route verlegt. Was mit einem Jerusalemer Nachbarschaftskrieg begann, droht nun militärisch zu eskalieren.