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Die Sprengkraft nationaler Gefühle in Zentralasien

Von Gerhard Lechner

Politik

Erst ging es nur um eine Wasserverteilerstation, dann schossen Soldaten aufeinander: Ein Streit um knappe Ressourcen eskalierte zwischen Kirgistan und Tadschikistan. Es wird nicht der letzte ethnische Konflikt in der Region gewesen sein.


Es begann alles relativ harmlos: Mit einem Konflikt um eine Wasserverteilerstation. Und es endete in den bislang schlimmsten Kämpfen zwischen tadschikischen und kirgisischen Truppen seit der Unabhängigkeit der beiden zentralasiatischen Länder 1991. Mehr als 40 Menschen - vorwiegend Kirgisen - verloren bei Kämpfen in der kirgisischen Region Batken an der Grenze zum benachbarten Tadschikistan ihr Leben, über 250 Menschen wurden verletzt. Zivilisten standen verzweifelt vor ihren zerstörten Häusern. Die Einwohner grenznaher Siedlungen wurden in Städte im Hinterland evakuiert, viele kamen bei Verwandten unter. Die Kämpfe dauerten zwar nur wenige Tage an. Am 2. Mai fanden die beiden Staaten eine Lösung, die Grenztruppen kehrten wieder in ihre Kasernen zurück. Dennoch hat die Eskalation gezeigt, welche Sprengkraft die ethnischen Konflikte in Zentralasien entfalten können.

Rasche Eskalation

Dass der Ausbruch der Gewalt so heftig werden würde, hatte anfangs niemand gedacht. Den Konflikt ausgelöst hatte ein Streit um eine Überwachungskamera bei einer Wasserverteilerstation. Die Station, die auf kirgisischem Gebiet liegt, wird sowohl von Kirgistan als auch von Tadschikistan genutzt. Laut einer Vereinbarung ist Kirgistan berechtigt, die Verteilerstation während der Wintermonate bis in den April hinein zu nutzen, danach, bis September, gehört die Wasserstelle den Tadschiken. Kirgistan benutzt dafür im Sommer das nahe gelegene Tortkul-Wasserreservoir.

Doch im Tortkul-Reservoir gibt es derzeit zu wenig Wasser. Also - so die Vermutung der tadschikischen Seite - bedienten sich die Kirgisen illegal weiter bei der gemeinsamen Wasserstation. Des Nachts, hieß es, würden sie das Wasser stehlen.

Die Lösung für Tadschikistan bestand darin, bei der Wasserstation eine Überwachungskamera zu installieren. Die kirgisischen Verstöße sollten damit dokumentiert werden. Doch als tadschikische Beamte die Kamera installieren wollten, wurden sie von aufgebrachten Kirgisen mit Steinwürfen verjagt. Daraufhin verstärkten beide Seiten ihre Grenztruppen, der Konflikt schaukelte sich schnell hoch - und endete in Kämpfen zwischen regulären Soldaten beider Länder. Nicht zum ersten Mal übrigens: Schon 2014 hatten Grenztruppen gegeneinander gekämpft, allerdings deutlich weniger intensiv. Zuvor war es nur zu Zusammenstößen zwischen der ansässigen Bevölkerung gekommen, ohne Beteiligung der Streitkräfte.

 

Nicht der erste Ressourcenkonflikt

Es ist nicht der erste Konflikt ums Wasser in der Region: So gab es etwa zwischen Kirgistan und Usbekistan Ungereimtheiten rund um eine Talsperre, die nahe der usbekischen Grenze liegt. Die Staumauer wird von Kirgistan kontrolliert, kommt aber hauptsächlich dem Nachbarstaat zugute - um die Verträge aus Sowjetzeiten, die die Nutzung regelten, wird immer noch gestritten.

Dass die Wasserkonflikte in der Region zunehmen, hat seine Gründe: Das kontinental geprägte Zentralasien gilt als eine vom Klimawandel stark betroffene Region, die Dürreperioden haben in letzter Zeit an Intensität zugenommen. Dazu kommen menschengemachte Umweltkatastrophen wie die Austrocknung des Aralsees, die das ökologische Gleichgewicht stören.

Es fehlt an Geld

Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, die gegenwärtigen Wasserprobleme zwischen Kirgistan und Tadschikistan ausschließlich ökologisch zu erklären. Denn die Wasserknappheit in der Region hat sich auch durch das starke Bevölkerungswachstum in den beiden Ländern - das vor allem in Tadschikistan hoch ist - verschärft. Wo mehr Menschen siedeln, verstärkt sich auch der Bedarf nach Wasser.

Hinzu kommt, dass viele Zentralasiaten damit begannen, Reis anzubauen. Das besonders rentable Korn braucht allerdings auch mehr Wasser. Dazu ist das noch zu Sowjetzeiten aufgebaute Bewässerungssystem nicht sonderlich effizient. Für eine effektive, moderne Lösung fehlte allerdings das Geld: Tadschikistan versank in den 1990er Jahren in einem Bürgerkrieg, heute wird es autoritär bis zunehmend totalitär regiert. Und das zumindest bis vor kurzem noch offenere Kirgistan, in dem immer wieder Revolutionen stattfanden, gilt bis heute als eines der Armenhäuser Zentralasiens.

 

Auf dem Weg in den Autoritarismus

Die jüngsten politischen Entwicklungen in Kirgistan bildeten ebenfalls einen Grund für die Eskalation des stets latenten Wasserkonflikts. Denn im Herbst des Vorjahres kam es in Bischkek nach einer umstrittenen Parlamentswahl wieder einmal zu einem gewaltsamen Umsturz, der mit Sadyr Scharapow einen umstrittenen, autoritär veranlagten Politiker an die Macht brachte. Der wegen einer Geiselnahme verurteilte Nationalist, der im Gefängnis saß, wurde von seinen Anhängern befreit und zum Regierungschef gemacht.

Als solcher drängte er Staatschef Sooronbaj Dscheenbekow aus dem Amt und übernahm nach einer umstrittenen Wahl im Jänner dessen Posten als Präsident. Mitte April weitete Scharapow seine Befugnisse mit einem Verfassungsreferendum deutlich aus - so, wie es etwa dereinst etwa der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko getan hatte und wie es in den umliegenden zentralasiatischen Republiken, die autoritär bis totalitär regiert werden, Usus ist. Die elf Jahre Kirgistans als parlamentarische, einigermaßen demokratische Republik dürften damit zumindest vorerst zu Ende sein.

 

Zündfunken Gebietsabtausch

Scharapow, ein Mitstreiter des 2010 gestürzten autoritär-nationalistischen Präsidenten Kurmanbek Bakijew, gilt als ehrgeiziger Politiker. "Der neuen Führung in Bischkek geht es darum, ihren Anhängern zu zeigen, dass sie lang vernachlässigte Probleme lösen kann", sagt Andrea Schmitz, Zentralasien-Expertin bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Dazu gehören auch die ungelösten Grenzfragen in der Region. Vor allem im kirgisisch-tadschikischen Grenzgebiet haben diese immer wieder zu Konflikten geführt, ausgelöst durch Zuwanderung und Konkurrenz um Land und Wasser.

In dieser Situation schlug der neue kirgisische Geheimdienstchef, ein Vertrauter Scharapows, in diesem Jahr einen Gebietsabtausch mit Tadschikistan vor. Die tadschikische Exklave Woruch sollte zu Kirgistan kommen, Tadschikistan sollte dafür andere Gebiete erhalten. "Das wurde von Tadschikistan vehement zurückgewiesen", berichtet Schmitz. "Schließlich ist Woruch dicht besiedelt und galt auch nie als Streitobjekt. Der Vorschlag hat auf tadschikischer Seite starke Empfindlichkeiten geweckt", sagt die Forscherin. Kein Wunder: Landwirtschaftlich nutzbare Flächen sind knapp in Tadschikistan, das zu mehr als zwei Dritteln aus Hochgebirge besteht. Zugleich wächst die Bevölkerung jährlich um über zwei Prozent. Welchen Stellenwert die Exklave für Tadschikistan besitzt, machte Tadschikistans Präsident Emomali Rachmon deutlich, als er im April demonstrativ nach Woruch reiste.

Aufgeheizte Stimmung

Kirgistan wiederum hielt im Grenzgebiet eine groß angelegte Militärübung ab, um Präsenz zu zeigen. Auf beiden Seiten heizte sich die Atmosphäre auf, befeuert durch die sozialen Medien und ihre Echokammern. So gab es Berichte, wonach die kämpfende kirgisische Grenztruppe Zivilisten davon abhalten musste, selbst mit der Waffe in der Hand gegen den tadschikischen Feind zu kämpfen. "In einer solch aufgeheizten Stimmung bedarf es nur eines kleinen Anlasses wie des Streits um eine Wasserstelle, und ein latenter Konflikt mit einer langen Vorgeschichte kann zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen", analysiert Schmitz.

Dass diese Auseinandersetzung so schnell eskalierte, war dennoch für viele überraschend - obwohl gerade im tadschikisch-usbekisch-kirgisischen Grenzgebiet rund um das Ferghana-Tal die ethnische Gemengelage kompliziert ist. "Die Gegend war immer schon ethnisch relativ gemischt und kleinräumig aufgeteilt", berichtet Schmitz. "Es gab und gibt tadschikische Dörfer neben usbekischen oder kirgisischen", sagt die Zentralasien-Expertin. "Viele Dörfer werden sowohl von Kirgisen als auch von Tadschiken bewohnt. Und doch besteht ein ausgeprägtes Bewusstsein der jeweiligen kulturellen Besonderheiten, das sich im Zuge der Nationsbildungsprozesse auf beiden Seiten verstärkt hat."

Plötzlich Staatsgrenzen

"Zu Sowjetzeiten war das Verhältnis der unterschiedlichen Ethnien zueinander wesentlich entspannter", gibt Schmitz zu bedenken. Der Grund: Die großen politischen Linien wurden in Moskau festgelegt, vor Ort arrangierte man sich mit den Bedingungen. Durch die gemeinsame Zugehörigkeit zur UdSSR konnten Konflikte um Ressourcen viel leichter beigelegt werden. Erst gegen Ende der Sowjetepoche änderte sich dies: "Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es eine ganz neue Situation: Die Grenzen zwischen den einzelnen Sowjetrepubliken, die in der UdSSR lediglich administrative Bedeutung hatten, wurden plötzlich zu internationalen Grenzen", sagt Schmitz.

"Zudem setzte man in der Sowjetzeit stark auf die Rhetorik von den Brüdervölkern, auf die Erzählung von der großen Gemeinsamkeit. Diese Erzählung hat mittlerweile erheblich an Wirkkraft eingebüßt", analysiert die Expertin.

Das liegt auch daran, dass die zentralasiatischen Staaten mittlerweile schon fast 30 Jahre unabhängig sind. Neue Generationen wuchsen heran, für die die Sowjetunion nur noch eine ferne Erinnerung ist. Gleichzeitig tritt die Generation, die den Sieg im "Großen Vaterländischen Krieg" über das Deutschland Adolf Hitlers noch erlebt hat, ab. Der Sieg in diesem opferreichen Existenzkampf war für die Sowjetunion ein ganz wichtiges Bindemittel.

 

Nationalismus soll Islamismus abwehren

Doch die universalistische Bruderrhetorik des einstigen Sozialismus hat schon mangels Verankerung in der Realität mittlerweile ausgedient. An seine Stelle treten - schon um eine islamistische Alternative zu verhindern - partikularistisch-nationale Strömungen als Legitimationsbasis. "Der Gegensatz zu den Anderen, das vermeintlich Eigene - all das wird heute viel stärker herausgestrichen, auch von der Geschichtsschreibung", berichtet Schmitz.

Stereotype spielen eine große Rolle: So sehen sich die Tadschiken als Angehörige einer großen, persisch geprägten Hochkultur - ganz im Gegensatz zu dem als grob eingeschätzten kirgisischen Nomadenvolk. "Die nationalen Besonderheiten wurden auch zu Sowjetzeiten schon kultiviert. Aber durch die Zugehörigkeit zur UdSSR, einem multinationalen Gebilde, war dieses Nationalbewusstsein eingehegt. Das ist jetzt anders, wie sich schon 2010 in der kirgisischen Stadt Osch gezeigt hat, als es zwischen Kirgisen und Usbeken zu blutigen Auseinandersetzungen kam, die 117 Menschen das Leben kosteten", sagt Schmitz.

"Agenten des Westens"

Zentralasien wird also wohl konfliktreich bleiben. Die Möglichkeiten des Auslandes, in Streitigkeiten eine Mittlerrolle einzunehmen, schätzt Schmitz als gering ein. Selbst Moskau habe keine Anstalten gemacht, einzugreifen, obwohl Tadschikistan und Kirgistan Mitglied in einem russischen Sicherheitsbündnis sind. China und der Westen hielten sich ebenfalls zurück.

Das liegt auch daran, dass die zentralasiatischen Staaten aller Probleme zum Trotz ihre Unabhängigkeit schätzen und Eingriffe von außen nicht gerne sehen. Gerade von westlicher Seite nicht: So werden Verfechter der Demokratie von der gegenwärtigen kirgisischen Führung bezichtigt, "Agenten des Westens" zu sein. Für die autoritären Regime in den Nachbarstaaten gilt das erst recht. "Man nimmt dem Westen die Rolle des neutralen Vermittlers nicht ab", meint Schmitz. "Dabei würde sich ein multilaterales Gremium wie die Vereinten Nationen oder die EU, die keine geopolitischen Interessen in der Region hat, theoretisch gut als Vermittler eignen", analysiert die Expertin.