In Israel könnte die Ära von Premier Benjamin Netanjahu bald zu Ende gehen. Eine Koalition ohne den Langzeit-Regierungschef nimmt jedenfalls immer konkretere Formen an. Der Chef der ultranationalistischen Partei Yamina, Naftali Bennett, will alles unternehmen, um ein Bündnis aus rechten, gemäßigten und linksgerichteten Parteien mit dem Liberalen Jair Lapid zu schließen. Damit, so Bennett, werde man verhindern, dass Netanjahu erneut an die Macht komme. Zudem sei deutlich geworden, dass die Bildung eines rechten Kabinetts gegenwärtig unmöglich sei, befand Bennett. Eine fünfte Wahl in Folge oder eben eine Einheitsregierung wären die einzigen Optionen.
Netanjahu, national-konservativ und mittlerweile 71 Jahre alt, regiert seit 2009 ohne Unterbrechung und ist damit der am längsten amtierende Ministerpräsident Israels. Bennetts Yamina verfügt über sechs Sitze im Parlament und kann "König Bibi" vom Thron stoßen. Den Plänen zufolge soll zunächst Bennett das Amt des Premiers übernehmen und später an Lapid übergeben.
Streit um Ämter
Die Bündnis-Pläne von Netanjahus Gegenspielern waren laut israelischen Medienberichten bereits so gut wie ausgemacht, als der Nahost-Konflikt zwischen Israel und Palästinensern am 10. Mai voll ausbrach. Angesichts der Gewalt stoppte Bennett die Gespräche und erklärte, eine breitere Einheitsregierung anzustreben. Das hatte die Chancen von Netanjahu auf den Machterhalt wieder erhöht.
Noch ist die Sache nicht endgültig fixiert, eine Koalition nicht fertig geschmiedet. Bennett und Lapid sind auf weitere Bündnispartner angewiesen. Zuletzt wurde heftig um die Ämteraufteilung gestritten.
Netanjahu steht jetzt jedenfalls mit dem Rücken zur Wand; von dem einst souveränen Überlebenskünstler ist derzeit nicht viel übrig. Unmittelbar nach der Erklärung Bennetts meinte er, dass eine rechtsgerichtete Regierung doch immer noch möglich sei. Ein Kabinett von Lapid und Bennett würde Israel schwächen und blamieren, so Netanjahu.
Kritisch äußerten sich auch die Palästinenser. Die sich abzeichnende Regierung wäre "rechtsextrem" und "nicht anders" als jene Netanjahus, sagte ein Vertreter der PLO.
Sollte es in wenigen Tagen tatsächlich zu einer Vereidigung der Regierung Bennett/Lapid kommen, wäre eine Ära beendet. Netanjahu war dann von 1996 bis 1999 und ab 2009 durchgängig Ministerpräsident Israels und damit für junge Israelis kaum noch wegzudenken. Vor allem aufgrund von verschiedenen Korruptionsvorwürfen ist er seit einiger Zeit höchst umstritten.
Mit der Erklärung Bennetts - einst ein loyaler Berater Netanjahus - brach im Netanjahu-Lager Panik aus. Noch am Sonntag bot der Premier Bennett und dem Ex-Likud-Politiker Gideon Saar Gespräche über ein Dreier-Wechselmodell an der Regierungsspitze an - doch vergeblich: Saar von der Partei Neue Hoffnung konterte die Aufforderung seines ehemaligen Parteifreundes: "Unsere Haltung und unser Engagement war und ist: die Ablösung der Netanjahu-Regierung."
Lapids Anti-Netanjahu-Bündnis "Für den Wandel" würde auch die Liste Blau-Weiß von Benny Gantz angehören. Hinzu kämen die laizistisch-nationalistische Partei Israel Beitenu (Unser Haus Israel) von Ex-Verteidigungsminister Avigdor Lieberman sowie die Arbeitspartei und die linksgerichtete Meretz-Partei. Auch wäre eine solche Regierung auf Unterstützung von arabischen Israelis angewiesen, die dem 57-jährigen ehemaligen TV-Journalisten Lapid positiv gegenüberstehen, nicht aber einem möglichen Premier Bennett. Trotz der teilweise extrem gegensätzlichen Positionen der einzelnen Partner sah die Politikwissenschaftlerin Gayil Talshir von der Hebräischen Universität Israel zuletzt "näher als je zuvor" an einem solchen Bündnis.
Suche nach Kompromissen
Lapids liberale Partei Yesh Atid (Es gibt eine Zukunft) war bei der Wahl im März, der vierten innerhalb von zwei Jahren, zweitstärkste Kraft geworden. Netanjahus Likud-Partei erhielt mit 30 von 120 Parlamentssitzen die meisten Mandate, verfehlte die absolute Mehrheit von 61 Sitzen aber deutlich. Ein Versuch zur Regierungsbildung scheiterte, daraufhin beauftragte Präsident Reuven Rivlin Lapid mit der Aufgabe. Die Frist läuft am Mittwochabend ab.
Netanjahu wollte ursprünglich ein Bündnis mit Bennetts religiös-nationalistischer Partei Yamina und der weit rechts stehenden Partei Religiöse Zionisten schmieden. Um auf die für eine Mehrheit in der Knesset nötigen 61 Sitze zu kommen, plante er, zusätzlich die konservative islamische Raam-Partei ins Boot zu holen. Die Partei Religiöse Zionisten schloss eine Zusammenarbeit mit den arabischen Israelis aber völlig aus.
Zuletzt sah Lapid zahlreiche Hindernisse auf dem Weg hin zu der von ihm angestrebten Regierung. "Das ist unser erster Test: zu sehen, ob wir in den kommenden Tagen schlaue Kompromisse finden können, um ein größeres Ziel zu erreichen", sagte der Parteichef. Es würde sich dabei ziemlich sicher um eine Minderheitsregierung handeln, die von arabischen Abgeordneten geduldet wird.