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Kolumbiens Vizepräsidentin: "Es kann nicht sein, dass es in Europa Kokain zur Nachspeise gibt"

Von WZ-Korrespondent Tobias Käufer

Politik

Marta Lucia Ramirez über die Wut der Jugend in ihrem Heimatland,
die steigende Nachfrage nach Kokain im Westen und die Millionen Flüchtlinge aus Venezuela.


Kolumbien wurde in den vergangenen Wochen von heftigen Unruhen erschüttert, die sich zunächst an einer inzwischen zurückgenommenen Steuerreform des rechtsgerichteten Präsidenten Ivan Duque entzündeten. Auf die Straße gingen vor allem junge Menschen. Die Regierung wird von Menschenrechtsorganisationen wegen teilweise brutaler Polizeieinsätze kritisiert, dutzende Menschen sind bei den Protesten gestorben. Umgekehrt spricht die Regierung wegen wochenlangen Straßenblockaden von urbanem Terrorismus gegen das Volk seitens einiger radikaler Gruppen. Inmitten dieser Krise übernahm Marta Lucia Ramirez von der Konservativen Partei Kolumbiens neben ihrem Amt als Vizepräsidentin auch das der Außenministerin.

"Wiener Zeitung": Der Rest der Welt sieht schlimme Bilder aus Kolumbien mit Gewalt vonseiten der Polizei, um sich schießende bewaffnete Zivilisten, aber auch Zerstörung, Blockaden und Angriffe auf die Sicherheitskräfte. Was ist da gerade los, warum gibt es so viel Wut bei den jungen Menschen?Marta Lucia Ramirez: So etwas hat es in dieser Form hier noch nie gegeben. Wir hatten immer mal Zeiten, in denen es Proteste gab, aber die waren ohne dieses Ausmaß von Gewalt. Es gibt dafür vielschichtige Gründe, vor allem in der jungen Bevölkerung. Arbeitslosigkeit, fehlende Chancen, leider haben nicht alle jungen Menschen Zugang zu besserer Bildung. Deswegen hat Präsident Ivan Duque einen nationalen Entwicklungsplan für mehr Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze aufgelegt, klare Signale gegeben, dass dies ein Land ist, das keine Korruption, keinen Drogenhandel und keine illegalen Gruppen toleriert und drittens, dass es in diesem Land eine wirkliche soziale Inklusion geben muss. Wir waren in den ersten zwei Jahren der Regierung auf einem guten Weg, es gab mehr Arbeitsplätze, wir haben die Armut reduziert, wir konnten mehr Rechtsstaatlichkeit umsetzen, aber dann kam die Pandemie und hat die Gesamtlage verändert.

Und die Gewalt bei den Protesten?

Ich verstehe jeden Bürger, der uns auffordert, Maßnahmen zu ergreifen, Korrekturen vorzunehmen, das Land zu führen und zu reformieren. Leider ist es aber auch offensichtlich, dass es neben der großen Gruppe der jungen Menschen, die friedlich protestiert, auch kleinere Gruppen gibt, die rausgegangen sind, um für Chaos zu sorgen, öffentliches Eigentum zu zerstören. Und weitaus schlimmer: Gruppen, die sich systematisch und strategisch organisieren, um hunderte kritische Punkte der Infrastruktur zu blockieren. Was haben sie erreicht? Die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu unterbinden, Krankenhäuser in eine äußerst schwierige Lage zu bringen, weil sie keinen Sauerstoff bekommen haben, in zwei blockierten Krankenwagen sind Babys gestorben.

Und die Rolle der Polizei?

Wir mussten die Sicherheitskräfte beauftragen, einen Großteil der Blockaden zu beseitigen. Krankenwagen an der Weiterfahrt zu hindern, ist einer der schwersten Verstöße gegen internationales Recht. Wir hatten Polizisten auf der Straße, die 18 bis 20 Stunden am Tag im Einsatz waren, deren institutionelle Aufgabe es ist, vorzubeugen, Gewalt zu vermeiden. Wenn die Polizei Gewalt anwenden muss, dann muss sie selbstverständlich verhältnismäßig sein. Das ist eine sehr schmerzhafte Etappe für unser Land, wir arbeiten mit unserem Präsidenten daran, dieses Kapitel zu überwinden, soziale Korrekturen durchzuführen und einen gemeinsamen Weg der Verständigung mit den Leuten zu finden, die friedlich protestieren.

Sie wurden kritisiert, weil Kolumbien zunächst die Interamerikanische Menschenrechtskommission nicht ins Land lassen wollte. Jetzt soll die Delegation nächste Woche doch kommen. Welche Erwartungen haben Sie bezüglich dieses Besuchs?

Die Behauptung, dass wir die Kommission nicht ins Land lassen wollten, ist falsch. Wir haben der Interamerikanischen Kommission einen Vorschlag unterbreitet, dass sie zu einer Überprüfung in einer öffentlichen Anhörung kommt. Chile hat in einer ähnlichen Situation fünf Monate gebraucht, um die Kommission ins Land zu lassen, nach Kolumbien kommt sie nächste Woche. Wir selbst sind an diesem Besuch interessiert, weil wir ein Staat sind, der sich dem Schutz der Menschenrechte verschrieben hat und der den Missbrauch von Autorität und Verletzung der Menschenrechte weder durch einen Amtsträger und noch durch einen Polizisten toleriert. Wenn Korrekturen ergriffen werden müssen, werden wir diese auch ergreifen.

Wenn wir über Menschenrechte sprechen, müssen wir auch über die ermordeten Sozialaktivisten, die Umweltschützer, die Soldaten und Militärs sprechen. Warum gelingt es der kolumbianischen Regierung nicht, diese anhaltende Gewaltwelle zu stoppen?

Was hinter all dieser Gewalt steckt, ist der Drogenhandel. Dieses Land hat enorme wirtschaftliche Mittel, eine immense institutionelle Anstrengung in den Kampf gegen den Drogenhandel gesteckt, aber es ist sehr schwierig, wenn es eine solch starke Nachfrage gibt. In den meisten hoch entwickelten Ländern, in Europa, in den USA, ist der Zugang zu Kokain sehr einfach, sie können das inzwischen im Internet bestellen. Es kann nicht sein, dass es in einigen Teilen der Welt, aus denen Kolumbien besonders stark kritisiert wird, für reiche Unternehmer Kokain zur Nachspeise gibt. Diese Doppelmoral ist nicht zu akzeptieren. Es sind die Kartelle, die das Leben der Kleinbauern, der Sozialaktivisten bedrohen. Dahinter stecken die ELN, die EPL, die "Autodefensas Gaitanistas", die aus ehemaligen paramilitärischen Banden hervorgegangen sind. Die mexikanischen Kartelle auf kolumbianischem Territorium sind ein erschwerender Faktor. Europa muss die Augen dafür öffnen. Denn ein Teil der Verarbeitung der kolumbianischen Koka-Paste erfolgt inzwischen in europäischen Ländern. Es ist kein Zufall, dass das Kokainangebot in Europa steigt.

Wäre es denn nicht der Zeitpunkt für einen fundamentalen Wechsel der Anti-Drogen-Politik?

Das ist ein Thema, über das man debattieren muss. Für uns ist es kurzfristig undenkbar, Drogen in Kolumbien zu legalisieren. Wir müssen beobachten, wohin die Ressourcen gehen, wo sie verwaltet werden, wie hoch die finanziellen Vermögenswerte der Kartelle sind, wo das Geld des Drogenhandels gewaschen wird, welche Folgen der Konsum und die Sucht für die Gesellschaft erzeugt. Wir müssen das mit einer multidisziplinären Analyse in internationalen Foren zu einer viel effektiveren Politik vorantreiben. Das setzt auch ein stärkeres Engagement von Regierungen in den Industrieländern voraus.

Kolumbien hat die meisten Flüchtlinge aus Venezuela aufgenommen. Welche humanitären und politischen Auswirkungen hat diese Entwicklung auf ihr Land?

In Europa oder in den USA weiß man inzwischen, welche enorme Herausforderung eine solche starke Migrationsbewegung mit sich bringt und was es bedeutet, die Türe für zwei Millionen Venezolaner aufzumachen, wie wir es getan haben. Ich glaube, dass unsere Politik Beweis dafür ist, dass die Regierung sich den Menschenrechten verpflichtet hat. Die Aufgaben sind enorm. In einigen Städten stehen die öffentlichen Dienste vor dem Kollaps. Die Türe zu öffnen, um jenen Kindern, die an den Händen ihrer Eltern vor dem Terror der Diktatur in Venezuela geflohen sind, eine Ausbildung und deren Eltern Arbeit zu geben, ist die Aufgabe, die sich Präsident Duque zur Aufgabe gemacht hat. Und das gleiche wollen wir natürlich auch für alle Kolumbianer erreichen.

Durch den Anstieg der Armut aufgrund der Pandemie ist die Herausforderung noch größer geworden. Ich will die Gelegenheit nutzen, Europa zu bitten, nicht nur die für uns wertvolle Zusammenarbeit für die venezolanischen Flüchtlinge fortzusetzen, sondern uns auch mit Impfdosen zu helfen.