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Wie Putin den Westen sieht

Von Gerhard Lechner

Politik

Dass Russland und der Westen in unterschiedlichen Welten leben, wird beim Treffen zwischen US-Präsident Joe Biden und seinem Amtskollegen Wladimir Putin in Genf wieder deutlich werden. Die Entfremdung ist groß - und reicht weit zurück.


Viele in Österreich hatten darauf gehofft, erfüllt haben sich die Hoffnungen nicht: Der mit Spannung erwartete Gipfel zwischen US-Präsident Joe Biden und seinem russischen Gegenüber Wladimir Putin wird am Mittwoch kommender Woche nicht in Wien, sondern in Genf stattfinden. Die schweizerische Stadt ist nicht zum ersten Mal Schauplatz derart wichtiger Begegnungen. So kam es dort 1985, in dem Jahr, als Michail Gorbatschow im Kreml das Kommando übernommen hatte, zum ersten Zusammentreffen des neuen Generalsekretärs der KPdSU mit US-Präsident Ronald Reagan. Obwohl Gorbatschow Reagan bei dem Treffen aufgrund seiner unverrückbaren Positionen als "Dinosaurier" schmähte und der liberalkonservative US-Präsident sein Gegenüber für einen "hartgesottenen Bolschewiken" hielt, gilt der Gipfel heute als Beginn vom Ende des Kalten Krieges.

Wird das Treffen zwischen Joe Biden und Wladimir Putin auch zu einem Abbau der Spannungen führen? Zweifel sind angebracht. Zwar hat Biden mit seinem Verzicht auf Sanktionen gegen europäische Firmen, die an der Pipeline Nord Stream 2 beteiligt sind, eine Geste des guten Willens gegenüber Moskau gesetzt. Einen "Reset" in den Beziehungen wird es in Genf aber dennoch nicht geben - das hat Russlands Vizeaußenminister Sergej Rjabkow im Vorfeld bereits klargemacht. Zu sehr differieren Weltsicht und geopolitische Interessen.

"Nicht zu viel erwarten"

"Allzu viel sollte von diesem Gipfeltreffen nicht erwartet werden", sagte Russland-Experte Alexander Dubowy der "Wiener Zeitung". Es werde in Genf weder zu einer echten Verbesserung der Beziehungen noch zu einem offenen Scheitern der Gespräche kommen.

Grund dafür ist auch, dass spätestens mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland im Jahr 2014 offenbar wurde, dass Moskau und der Westen die Welt fundamental anders sehen. Während der Westen auf die Einhaltung seiner vermeintlich universellen Wertvorstellungen pocht, pflegt Russland einen machtorientierten Politikzugang. "Putins Weltbild setzt sich zusammen aus Versatzstücken des konservativen Denkens im Russland des 19. und 20. Jahrhunderts, einer idealisierten Lesart der russischen Geschichte bis zur Oktoberrevolution, den Überbleibseln seiner sowjetischen Sozialisierung und US-zentrierten geopolitischen Vorstellungen in Verbindung mit zynisch-pragmatischer Realpolitik", sagt Dubowy. "Russland sieht er dabei als eine eigenständige Zivilisation an, die sich sowohl vom Westen als auch von seinen asiatischen Nachbarn unterscheidet."

 

Populäre Außenpolitik

Putin ist damit in Russland freilich nicht alleine. Gerade die Außenpolitik ist jenes Feld, wo der Rückhalt für die Putin’sche Politik in der russischen Bevölkerung am stärksten ist. Putin selbst, Außenminister Sergej Lawrow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu - also jene Personen, die mit der Außenpolitik in Verbindung gebracht werden - erreichen in Umfragen nicht umsonst hohe Zustimmungswerte. "Die russische Außenpolitik ist keine Außenpolitik Putins, sondern das Ergebnis eines Konsenses unter den Führungseliten", analysiert Dubowy.

Dieser Konsens, der Putin wohl überdauern wird, hat sich bereits deutlich vor dessen Amtsübernahme herausgebildet, nämlich Mitte der 1990er Jahre. Schon damals erklärte Außenminister Sergej Primakow den Aufbau einer multipolaren, nicht von den USA dominierten Weltordnung zum Ziel russischer Außenpolitik - und wollte ein geopolitisches Dreieck zwischen Russland, China und Indien schaffen, das das Ende der globalen Vormachtstellung der USA bewerkstelligen sollte.

 

Diskussionen über Nato-Beitritt

Prowestliche Blütenträume waren in Moskau zu diesem Zeitpunkt bereits zerstoben: Die räuberische Art und Weise, mit der sich ehemalige Kommunisten die Staatsbetriebe zuschanzten und der Zerfall von Recht und Ordnung im Land hatte die dem Westen freundliche Stimmung, die es trotz des Zerfalls der UdSSR gab, rasch weggespült.

Zuvor war kurz sogar ernsthaft über einen russischen Nato-Beitritt diskutiert worden. Die Grundvoraussetzung dafür wäre aber gewesen, dass der Kreml den US-amerikanischen Führungsanspruch in dem Bündnis akzeptiert. Die Eliten in Moskau wollten aber, wie sich ein russischer Diplomat damals ausdrückte, nicht in ein Flugzeug steigen, in dessen Cockpit nur die Amerikaner saßen. "Man sah - und sieht - sich in Moskau den USA ebenbürtig und erwartet, von Washington auf Augenhöhe behandelt zu werden", sagt Dubowy.

Es ist kein Zufall, dass das berühmte Buch des US-Politologen Francis Fukuyama vom "Ende der Geschichte" im postsowjetischen Russland kaum auf Resonanz stieß. Die These, dass die liberale Demokratie, das Konzept des langjährigen Gegenspielers USA, endgültig gesiegt haben sollte, löste im postsowjetischen Russland keine Begeisterungsstürme aus. Deutlich besser verkaufte sich das Buch eines anderen prominenten US-Politologen: Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen", ein Buch, in dem eine multipolare, nach Kulturen geordnete Welt skizziert wurde, passte besser zu den Vorstellungen der russischen Elite. Wenn schon nicht als Weltmacht, so sah man sich doch als regionale Großmacht - und als Kernstaat der orthodoxen Welt. Innerhalb dieser Welt beanspruchte Russland auch nach wie vor einen Führungsanspruch im "nahen Ausland", etwa in Belarus oder der Ukraine.

Gegen äußere Einmischung

Das Problem für Moskau war, dass sich diese kulturell tatsächlich sehr nah verwandten Länder in den 2000er-Jahren dem Einfluss Moskaus zunehmend entzogen. Sowohl mit Weißrussland als auch mit der Ukraine kam es zu endlosen Disputen um Gas- oder Ölpreise. Als 2004 in der Ukraine die "Orange Revolution" eine prowestliche Regierung an die Macht brachte, hatte man im Kreml den Schuldigen rasch ausgemacht: den Westen, insbesondere den alten Rivalen USA. Ihm wurde vorgeworfen, im postsowjetischen Raum - und auch in Russland selbst - Unruhe zu stiften.

Obwohl der Kreml auch den Aufstieg Chinas kritisch sieht, bleibt somit doch der Westen der Hauptgegner. Man ist der Ansicht, dass dieser sich in die inneren Angelegenheiten Russlands einmischt - und damit das Riesenreich an seiner Achillesferse trifft. Denn: "Als größte Bedrohung für die Sicherheit des Landes wird in der russischen Führung innere Instabilität angesehen", sagt Dubowy. Das dünn besiedelte multikulturelle Land ist stets gefährdet. Farbrevolutionen müssen somit um jeden Preis verhindert werden - von Moskau und Damaskus bis Minsk.

Dass man Einmischung offiziell ablehnt, hindert den Kreml freilich nicht daran, selbst gegenüber dem Westen in die Offensive zu gehen. Argumentiert wird nach der Art: Wie Du mir, so ich Dir. Den westlichen Stiftungen in Russland und Osteuropa setzt man Medien wie "Russia Today" entgegen. So befinden sich Ost und West 30 Jahre seit der Beendigung des Kalten Krieges im Dauerclinch. Ein Ende dieser Entfremdung ist nicht abzusehen.