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Afghanische Flüchtlinge: EU wird nervös

Von Michael Schmölzer

Politik
Kinder von afghanischen Binnenflüchtlingen in der Nähe von Kabul.
© reuters / Mohammad Ismail

Taliban-Vormarsch löst Massenpanik aus. Lager in der Osttürkei füllen sich, täglich passieren 1.000 Migranten die Grenze.


Die Taliban greifen in Afghanistan nach der Macht, und die Zahl der Flüchtenden steigt unaufhaltsam an. Die meisten versuchen, sich in den Iran, nach Tadschikistan oder Pakistan durchzuschlagen. Es sind ganze Fahrzeugkonvois, die sich auf den Weg machen: Beobachter berichten von Polizei- oder Armeefahrzeugen, die als Fluchtmittel genutzt werden. Erst vor wenigen Tagen hat ein ganzes afghanisches Armeebataillon aus Angst vor den Taliban die tadschikische Grenze gequert.

Weiter geht es dann oftmals in die Türkei. Die türkische Provinz Van, hart an der Grenze zum Iran, soll voll von Migranten aus Afghanistan sein. Der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD in der Provinz, Mehmet Karatas, bestätigt gegenüber der Presseagentur dpa, dass täglich mehr als 1.000 Afghanen über die Grenze kommen.

In Europa schrillen die Alarmglocken

Der Nato-Abzug aus Afghanistan wird mit Ende August abgeschlossen sein, die Taliban erobern bereits jetzt Bezirk um Bezirk. Mittlerweile sind fast alle größeren Städte von den Terroristen umzingelt. Die vom Westen gut ausgerüsteten und langwierig trainierten Sicherheitskräfte setzen dem wenig Widerstand entgegen, die Kampfmoral ist oft bei Null angelangt. Nur einige ausgewählte Spezialeinheiten, Warlords und ehemalige Mudschaheddin sind dazu bereit, sich den Islamisten ernsthaft in den Weg zu stellen.

Auch wenn sich diese da und dort noch in Zurückhaltung üben, ist den meisten Beobachtern klar, dass sie nichts an Grausamkeit eingebüßt haben. Manche Afghanen hegen die Hoffnung, dass alles nicht so schlimm wird, vielen aber ist klar, dass sie nicht im Land bleiben können.

In der Europäischen Union ist man angesichts dieser Entwicklungen mehr als alarmiert. Für einen von der Internet-Plattform "Euractiv" zitierten Diplomaten liegt auf der Hand, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Vertriebenen in den Westen will.

Klar ist auch, dass einmal mehr die Türkei eine Schlüsselrolle spielen wird. Derzeit toleriert Ankara syrische Flüchtlinge im Land. Andere, wie Afghanen, werden in Richtung EU-Außengrenze geschleust. In Litauen wird seit einiger Zeit eine steigende Zahl an Migranten registriert, die über Weißrussland kommend die Grenze in die EU überschreiten.

Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis ist überzeugt, dass nicht nur Weißrussland sondern auch Russland die Passage der Afghanen in die EU absichtlich fördert. Vilnius hat den nationalen Notstand ausgerufen und die EU um Hilfe bei der Kontrolle der 680 Kilometer langen Grenze zu Belarus gebeten. Ein Zaun soll gebaut werden, schon jetzt werden die Grenzpatrouillen verstärkt.

Probleme mit der Türkei programmiert

Weißrusslands Machthaber Alexander Lukaschenko hat bereits offiziell bekannt gegeben, dass Minsk Flüchtlinge als Druckmittel gegen die EU einsetzt. Russland und Weißrussland leiden unter EU-Sanktionen und wollen die einzelnen Mitgliedsländer so in Zugzwang bringen.

Vilnius versucht unterdessen, das Problem unter Einbindung der Türkei und des Irak in den Griff bekommen. Landsbergis wurde am gestrigen Dienstag in Ankara vorstellig, um über rasche Abschiebungen zu verhandeln. Nächste Station ist dann Bagdad. Ziel des Außenministers ist die Etablierung von "sehr klaren Rückführungsmechanismen".

Wenn der Zustrom afghanischer Flüchtlinge in die Türkei weiter zunimmt, sind Probleme programmiert. Brüssel unterstützt die Türkei zwar finanziell, damit Migranten nicht in die EU gelangen - der Flüchtlingsdeal betrifft aber nur Syrer. Es ist nun davon auszugehen, dass Ankara die verheerende Lage in Afghanistan nutzen wird, um ein weiteres finanzielles und politisches Entgegenkommen der EU zu erreichen.

Kabul hat unterdessen die europäischen Staaten aufgefordert, Abschiebungen nach Afghanistan wegen der zunehmenden Gewalt der Taliban und der anhaltenden Corona-Pandemie für drei Monate auszusetzen. Die Bitte zeigt bereits Wirkung: Finnland hat die Abschiebungen gestoppt. Schon seit Freitag vergangener Woche sei für afghanische Staatsbürger die "Ausstellung negativer Bescheide" suspendiert, so die finnische Einwanderungsbehörde. Die Aussetzung der Abschiebungen bedeute nicht, dass die Betroffenen automatisch eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bekämen. Die Entscheidungen über die Anträge würden nur verschoben, stellte die Behörde klar.

Berlin und Wien halten an Abschiebungen fest

Österreich und Deutschland wollen sich dieser Vorgangsweise auf keinen Fall anschließen. Außenminister Alexander Schallenberg kritisiert die Aufforderung der afghanischen Regierung, Abschiebungen auszusetzen, scharf. Die Europäische Union als "einer der größten Unterstützer und Financiers Afghanistans" müsse hier "langsam aufwachen", befand der Minister. Es könne nicht sein, dass "Europa immer am kürzeren Ast sitzt" und dem "Druck anderer Staaten in Migrationsfragen ausgesetzt" sei. Die ÖVP hält fest, dass Österreich angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen erst gar nicht wieder zum Zielland werden dürfe.

Auch Berlin hält an den Abschiebungen fest. Es handle sich um nur sehr wenige Personen, betonte der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende im Bundestag, Thorsten Frei. Seit 2016 seien nur etwas mehr als 1.000 Personen nach Afghanistan zurückgeschickt worden. In Berlin will man die Sicherheitslage in Afghanistan genau beobachten und auf dieser Grundlage die Abschiebungsfrage entscheiden. Die Frage ist etwa, wie lange die afghanische Armee den Flughafen Kabul noch kontrolliert und ein sicheres Landen dort möglich ist. Ein Luftabwehrsystem wurde bereits installiert, um die Hauptstadt vor Raketenangriffen zu schützen. Die Taliban stehen unterdessen vor den Toren der Stadt.