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Vom Afro-Look zur offenen Meuterei

Von Michael Schmölzer

Politik

Die Kampfmoral in der afghanischen Armee ist auf dem Nullpunkt. Die USA kennen das Problem aus der eigenen Vergangenheit.


Geht man rein nach der Papierform, ist alles klar: Die afghanische Armee besteht aus 300.000 Mann, die von den USA und anderen Nato-Partnern gut ausgerüstet und über viele Jahre intensiv trainiert wurden - auch von Angehörigen des Bundesheeres. Für besonders anspruchsvolle militärische Operationen gibt es Spezialkräfte, die keinen Gegner zu fürchten brauchen.

Dem steht eine unbekannte Zahl an Taliban gegenüber - radikalisierte islamistische Fanatiker, die von derartigen Voraussetzungen nur träumen können. Die Taliban kämpfen weitgehend ohne Helm und Uniform, die Bewaffnung ist uneinheitlich und bestand ursprünglich vor allem aus altem, ausrangiertem Gerät.

Trotzdem erobern die Islamisten seit Beginn des endgültigen Nato-Abzugs vor knapp drei Monaten in rasender Geschwindigkeit Bezirk um Bezirk, Grenzübergang um Grenzübergang. Die wichtigsten Verkehrswege sind in ihren Händen, die Metropolen großteils eingekesselt. Experten sprechen davon, dass die Taliban in wenigen Monaten Afghanistan kontrollieren werden.

Ein desaströses Fazit, in erster Linie für die USA, die nach zwanzig Jahren Krieg, mehr als 2.300 toten GIs und einem unglaublichen finanziellen Aufwand das größte militärische Debakel seit dem Vietnamkrieg erleben.

Waffen und Geld verschwinden einfach

Der unmittelbare Grund dafür ist, dass die vom Westen so umfassend aufgerüsteten und trainierten Soldaten der afghanischen Armee nicht bereit sind, zu kämpfen. Ein Phänomen, das die USA aus dem Irak kennen, wo 2014 die regulären Streitkräfte zur großen Enttäuschung Washingtons dem IS so gut wie keinen Widerstand entgegensetzten.

In Afghanistan lassen ganze Kompanien die Waffe fallen; die Soldaten gehen nach Hause. Bataillone ergreifen die Flucht, noch bevor die Taliban einen einzigen Schuss abgegeben haben. An anderen Orten wird halbherzig gekämpft und den Islamisten schnell das Feld überlassen. Selbst die Spezialkräfte der afghanischen Armee erweisen sich als zahnlos. Wenn die Taliban angreifen, nehmen sie Reißaus.

Die Ursachen der fehlenden Kampfbereitschaft sind vielfältig. Ein Grund liegt darin, dass die Taliban über so gut wie jede militärische Operation der Armee im Voraus bescheid wissen, die regulären Einheiten dann in einen Hinterhalt laufen, gefangen genommen oder blutig niedergemacht werden.

Die afghanische Regierung, die von den USA etabliert und unterstützt wurde, ist hoffnungslos korrupt und verheizt ihre Armee wissentlich. Die Soldaten bekommen widersprüchliche Befehle, werden von A nach B geschickt und wieder retour, das Chaos ist perfekt. Nicht nur, dass von oberster Stelle alle wichtigen Informationen sofort an die Taliban gehen; vom Westen gelieferte Sturmgewehre und Granatwerfer verschwinden in großer Zahl und tauchen bei den Taliban wieder auf. Das Kriegsgerät wird von Offizieren und Beamten an die Islamisten verkauft. Dazu kommt, dass Einheiten nur auf dem Papier existieren und der Sold für die "Geisterarmeen" ebenfalls in die Taschen hoher Beamter fließt.

Dass die Kampfmoral unter diesen Vorzeichen gering ist, liegt auf der Hand.

Verweigerung war in Vietnam an der Tagesordnung

Der Westen, allen voran die USA, sind 2001 in Afghanistan angerückt, um Al-Kaida und die Taliban zu vertreiben und Freiheit, Demokratie und Wohlstand zu bringen. Das Konzept hat in einer Gesellschaft, die von archaischen Denkmustern und schwer durchschaubaren Loyalitäten geprägt wird, nicht verfangen. Ein modernes Staatswesen lässt sich hier jedenfalls so nicht umsetzen.

Kaum ein afghanischer Soldat ist bereit, für Werte, die seinen Grundsätzen nicht entsprechen, sein Leben einzusetzen.

Afghanische Offiziere berichten, dass ihre Männer keine Befehle mehr entgegennehmen. In Extremfällen kommt es vor, dass Soldaten die Waffe gegen ihre Kameraden richten und diese töten. Im Pentagon ist man über die Lage genau unterrichtet - und machtlos.

Wobei man in Washington die Auswirkungen desolater Kampfmoral aus eigener Anschauung gut kennt: Männer, die massenhaft ihre Einberufungsbefehle verbrennen, Drogenmissbrauch und Desertionen in großer Zahl, Sabotage und Verweigerung im Feld bis hin zu Soldaten, die ihre eigenen Offiziere ermordeten: Im Vietnamkrieg der 1960er-Jahre war das an der Tagesordnung.

Das Ausmaß an Kampfunwilligkeit in Vietnam reichte nicht an das heran, was heute in der afghanischen Armee geschieht. Dennoch gilt für die USA das gleiche wie heute für den Hindukusch: Wenn eine Mehrzahl keinen Sinn in einem Konflikt sieht, ein Soldat den Krieg, in dem er sich bewähren soll, ablehnt, sich missbraucht fühlt und sich auch von den Propagandaschlagworten nicht beeindrucken lässt, stehen Politiker mit ihren jeweiligen Zielen immer auf verlorenem Posten.

"Ich habe keinen Streit mit dem Vietcong, und kein Vietnamese hat mich jemals Nigger genannt", so die knappe Absage der Boxlegende Muhammad Ali anlässlich seiner Einberufung. Die Erzählung vom Kampf gegen die drohende Ausbreitung des Kommunismus interessierte ihn nicht - umso mehr aber der tägliche Rassismus, dem er persönlich ausgesetzt war.

In den USA gab es in den 1960er-Jahren keine straff organisierte Berufsarmee wie heute. Es bestand allgemeine Wehrpflicht, und die sozialen Konflikte, die zu dieser Zeit tobten, fanden ihre direkte Fortsetzung im vietnamesischen Dschungel.

Dort versammelten sich in erster Linie Angehörige ethnischer Minderheiten und Weiße aus der sozialen Unterschicht. Die Etablierten fanden Mittel und Wege, der Einberufung zu entgehen. Etwa durch Besuch eines Colleges oder durch Intervention eines Arztes. Prominentes Beispiel ist Ex-Präsident Donald Trump, der zur Zeit seiner Musterung marschunfähig war, weil er an einem Fersensporn litt - der sich später allerdings rasch wieder zurückbildete.

Auch für politisch Uninteressierte abseits der Anti-Kriegsbewegung war klar, dass der Krieg in Vietnam nicht zu gewinnen war. Die Kampfmoral sank auch deshalb rapide, die herrschenden Zustände wären heute unvorstellbar. Das begann im Kleinen und steigerte sich bis zu Sabotage und Meuterei. Viele US-Soldaten ließen sich als Zeichen des Widersandes einen wild wuchernden Afro-Look stehen und trugen ein aufgemaltes Peace-Zeichen auf dem Helm. In einem nächsten Schritt wurde versucht, US-Kriegsschiffe am Auslaufen zu hindern, die Zahl der Desertionen stieg 1968 und 1969 sprunghaft an, es entstanden 50 GI-Untergrundzeitungen. Eine dieser Postillen, "GI says", bot jedem Soldaten ein Kopfgeld von 10.000 Dollar an, wenn er den allseits unbeliebten Oberstleutnant Weldon Honeycutt zur Strecke brächte. Um die Summe aufzubringen, wurde um Spenden gebeten.

Der Name Honeycutt ist untrennbar mit der Schlacht um Dong Ap Bia im Mai 1969 an der Grenze zu Laos verbunden. Der Ort hieß wegen des Gemetzels im Jargon der GIs "Hamburger Hill". Der strategische Wert war gering, die Verluste auf US-Seite hoch, Kommandeur war Honeycutt. Er überlebte mehrere Anschläge auf Leib und Leben.

Eine Granate und keine Fingerabdrücke

Die Bereitschaft, in Vietnam Offiziere zu töten, noch bevor sie den Befehl zum Angriff geben konnten, war beträchtlich. Die Vorgangsweise wurde "Fragging" genannt: Ein Offizier, der als schikanös oder Gefahr für das eigene Leben empfunden wurde, wurde von den eigenen Leuten unter Verwendung einer Splitterhandgranate (englisch: "Fragmentation Grenade") getötet. Die Täter konnten meist nicht ausgeforscht werden, weil keine Fingerabdrücke nachweisbar waren. Sie mussten nur die Sicherung ("spoon") verschwinden lassen. Auch wurde die Ausgabe von Munition im Vietnam-Krieg kaum überwacht. Die "Fragger" warfen die Handgranate häufig in das Zelt des Offiziers, während dieser schlief. Die Mitglieder der Untersuchungskommissionen sahen sich dann mit eisernem Schweigen der gesamten Einheit konfrontiert. Oft wurde behauptet, das Opfer sei durch Feindbeschuss gefallen.

Das Phänomen wird in der US--Literatur ausführlich behandelt, wobei nicht geklärt ist, wie viele Offiziere und Unteroffiziere tatsächlich "gefraggt" wurden. Anhörungen im US-Kongress 1973 ergaben, dass rund drei Prozent aller Todesfälle von Offizieren oder Unteroffizieren zwischen 1961 und 1972 das Resultat dieser Tötungen waren. Viele Vorfälle ereigneten sich nicht nur an der Front, sondern auch bei den Support Units, in der zweiten Linie.

Häufig verpassten die Soldaten dem Missliebigen einen Schuss vor den Bug. Sie benutzten Nebel- oder Tränengasgranaten, oder der Betroffene fand eine noch gesicherte Granate in seinem Zelt.

Offiziere lebten gefährlich, und das sprach sich natürlich mit rasender Geschwindigkeit herum. Und führte dazu, dass Kommandeure aus Angst, "gefraggt" zu werden, keine Befehle mehr gaben. Oder es kam zu der eigentümlichen Situation, dass ein Leutnant vor dem Einsatz mit seinen Soldaten in Verhandlungen treten musste. Militärische Operationen waren so nicht mehr durchführbar.