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"Es kann zur Radikalisierung in Tunesien kommen"

Von Gerhard Lechner

Politik

Tunesien-Experte Holger Dix über die jüngste Eskalation in dem von Krisen gebeutelten Mittelmeerstaat.


"Wiener Zeitung": In Tunesien sorgte Präsident Kais Saied für einen politischen Paukenschlag. Er entmachtete seinen Premierminister Hichem Machichi, entließ zwei Minister, suspendierte das Parlament und hob die Immunität der Abgeordneten auf. Das Militär und weite Teile der Bevölkerung sind auf Saieds Seite. Ist der Machtkampf in Tunesien zwischen dem säkularen Präsidenten und der islamisch-konservativen Ennahda-Partei entschieden?

Holger Dix: Ich glaube, für so einen Befund ist es noch zu früh. Ennahda-Chef Rached Ghannouchi, der ja auch Parlamentspräsident ist, akzeptiert die Entscheidung, dass man die Volksvertretung für 30 Tage quasi eingefroren hat, jedenfalls nicht. Anhänger der Partei protestieren gegen das Vorgehen des Präsidenten. Es ist gut möglich, dass sie in den kommenden Tagen weiter mobilisieren werden.

Die Ennahda hat das Vorgehen des Präsidenten als Putsch gewertet. Auch im Westen gibt es einige Beobachter, die Saied derartige Absichten unterstellen. War es ein Putsch?

Das wird in Tunesien je nach Akteur unterschiedlich bewertet. Jene Verfassungsexperten, die wir befragt haben, waren tatsächlich der Ansicht, dass es sich um einen Putsch handelt. Verfassungswidrig ist das, was hier passiert ist, auf jeden Fall - obwohl Saied Jurist ist und sich auf die Rechtmäßigkeit seines Handelns beruft. Seine Sicht der Dinge, dass ihm Artikel 80 der tunesischen Verfassung weitreichende Sonderrechte zugesteht, ist, vorsichtig formuliert, nicht ganz sauber.

 

Ist damit auch Tunesien auf dem Weg in den autoritären Staat? Ist das demokratische Experiment nach knapp zehn Jahren jetzt beendet?

Das denke ich nicht. Ein Rückschlag ist das, was passiert ist, aber in jedem Fall. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn die Konflikte in Tunesien mit demokratischen Mitteln gelöst worden wären. Stattdessen hat man jetzt den Hammer ausgepackt und versucht, die immensen Probleme des Landes außerhalb demokratischer Verfahrensweisen zu lösen.

Ich glaube aber nicht, dass Präsident Saied diese Politik durchhalten kann. Obwohl es in der Bevölkerung Unterstützung für seinen Weg gibt: Viele Tunesier haben gejubelt, es gab Feuerwerke und Hupkonzerte. Weil die Menschen verzweifelt sind und jetzt Hoffnung auf Besserung ihrer Lage haben. Ob sich die erfüllt, ist eine andere Frage: Wenn es Saied in den 30 Tagen, in denen das Parlament suspendiert ist, nicht gelingt, schnell positive Ergebnisse zu liefern - etwa bei der Korruptionsbekämpfung -, dann kann die Euphorie auch schnell wieder nachlassen. Ich glaube nicht, dass der Staatschef die politische Kraft hat, sich gegen die Befürworter der Demokratie in Tunesien dauerhaft durchzusetzen, sollte er in der Tat einen dauerhaften autoritären Weg gehen wollen.

Warum gibt es eigentlich diesen Konflikt zwischen dem Staatspräsidenten und Ennahda? Steht hier das säkulare gegen das islamische Lager? Oder ist das zu simpel gedacht?

Dieser Konflikt der beiden Lager spielt schon eine Rolle. Es gibt in Tunesien ja auch tatsächlich extremistische islamistische Kräfte, die teilweise von außen unterstützt werden und eine andere Agenda haben als den Aufbau einer Demokratie und eines säkularen Staates. Es gibt allerdings auch gemäßigtere Kräfte.

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Saieds Vorvorgänger im Präsidentenamt, Beji Essebsi, hat versucht, diese islamischen Kräfte einzubinden. Damit sollte auch die potenzielle Gefahr, die von ihnen ausgehen kann, reduziert werden. Said hingegen verfolgt einen anderen Kurs. Er setzt auf Konfrontation mit den Islamisten. Was das Ergebnis einer solchen Politik sein wird, wissen wir nicht. Es könnte zu einer Radikalisierung der Islamisten kommen.

Und Ennahda? Handelt es sich bei dieser Partei um Islamisten mit freundlichem Gesicht? Oder sind sie, wie sie selbst behaupten, gemäßigte Konservative? Sie vergleichen sich ja unter anderem mit der deutschen CDU.

Die CDU selbst hat diesen Vergleich nicht akzeptiert, und auch in Tunesien nehmen viele der Ennahda ihre Selbstdarstellung, sie sei eine auf demokratischen Grundsätzen operierende Kraft, nicht ab. In der Tat gibt es starke Hinweise darauf, dass Ennahda versucht, in Wirtschaft und Justiz gezielt ihre Leute zu postieren, um ihren Einfluss auszuweiten.

Das mag auch ein Grund dafür sein, warum Saied jetzt den Generalstaatsanwalt auf Eis gesetzt hat und den Job selbst machen will. Er glaubt, dass die Justiz unter dem Einfluss der Ennahda steht. Ob das der Fall ist, ist zwar unklar. Die religiöse Ausprägung der Politik der Ennahda geht aber in jedem Fall über gewöhnliche demokratische Wertepolitik hinaus.

Seit dem Sturz Muammar al-Gaddafis ist Libyen im Chaos versunken, und Algerien, der westliche Nachbarstaat Tunesiens, musste in den 1990er Jahren einen Bürgerkrieg zwischen Islamisten und Staatsmacht durchmachen. Ist es möglich, dass Tunesien jetzt ebenfalls in diese Richtung abrutscht? Kann es zu militärischen Auseinandersetzungen bis hin zum Bürgerkrieg kommen?

Ich glaube nicht, dass Tunesien im Chaos versinken wird. Die Menschen sind schon stolz auf das, was sie erreicht haben - und dass sie sich in Sachen Demokratie von den Nachbarstaaten unterscheiden. Allerdings zeigen repräsentative Umfragen, dass die große Mehrheit der Tunesier heute sagt, es ginge ihnen schlechter als vor zehn Jahren, als es die erfolgreiche Revolution gab. Und dass man deren Ziele nicht erreicht hat. Die Unzufriedenheit ist groß, und die schlechte Stimmung wird noch befeuert durch die Corona-Krise, die das Land vor wirklich große Herausforderungen stellt. Die Rahmenbedingungen für das Gedeihen einer jungen Demokratie, die ihre Abwehrkräfte noch nicht entwickeln konnte, sind heute schlecht. Ich glaube aber dennoch nicht, dass sich Tunesien dauerhaft von der Demokratie verabschiedet. Dazu gibt es zu viele Kräfte, die das Land unterstützen - von innen wie von außen.