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Der zerbrochene Staat: Der Libanon nach dem Knall

Von Ronald Schönhuber

Politik

Ein Jahr nach der gewaltigen Detonation in Beirut mit 200 Toten gibt es noch immer kaum Antworten zu den Hintergründen. Überrascht hat das kaum jemanden im Libanon. Das in einer Multi-Krise steckende Land steht kurz vor der finalen Implosion.


Für Israa Seblani hätte dieser Tag der glücklichste in ihrem Leben sein sollen. Doch die Erinnerungen an den 4. August 2020 sind so schmerzhaft, dass die Ärztin es bis heute nicht geschafft hat, irgendwo in ihrer Wohnung ein Foto ihrer Hochzeit aufzustellen. "Ich werde mich nicht selbst anlügen", sagt sie. "Das was damals passiert ist, war eine Katastrophe für die Menschen im Libanon."

Seblani ist jene junge Frau, deren nach der Hochzeit gemachte Videoaufnahmen rund um die Welt gingen. Auf den Bildern ist zu sehen, wie Seblani in einem strahlend weißen Kleid für den Fotografen posiert, bis ein ohrenbetäubender Knall die Szenerie auf dem kleinen Platz im Herzen der Hauptstadt Beirut erschüttert. Überall in der Umgebung bersten die Fensterscheiben, die gewaltige Druckwelle der viele hundert Meter entfernten Explosion lässt die lange Schärpe des Kleides wie eine Fahne im Sturm flattern und fegt die Braut beinahe von den Beinen.

Seblani kommt damals mit dem Schrecken davon, doch den ersten Jahrestag ihrer Hochzeit werden sie und ihr Mann Ahmad Subeih vor allem mit Arbeit verbringen - dem besten Mittel, um sich abzulenken. "Das ist ein Tag, für den wir keine Pläne machen können", sagt Subeih gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. "Es ist ein Tag der Trauer und des Kummers."

Eine Frage der Immunität

So wie Seblani und Subeih will der 4. August 2020 auch viele andere Menschen in Beirut nicht und nicht loslassen, insbesondere jene, die bei der Explosion im Hafenviertel ein Familienmitglied verloren haben. Denn die Angehörigen der knapp 200 Toten müssen nicht nur mit ihrer Trauer umgehen, sondern auch mit ihrer Wut darüber, dass es bis heute so gut wie keine Antworten gibt. So sind die Spezialermittler der libanesischen Polizei zwar relativ bald zu dem Schluss gekommen, dass eine Kettenreaktion für die Katastrophe in Beirut verantwortlich war - bei Schweißarbeiten hatte sich das Schwarzpulver von Feuerwerkskörpern entzündet und in weiterer Folge große Mengen der hochexplosiven Chemikalie Ammoniumnitrat zur Detonation gebracht, die im Hafen schon seit Jahren ohne Schutzmaßnahmen eingelagert waren. Doch die Hintergründe und die politischen Verantwortlichkeiten liegen bis heute im Dunkeln.

Weder Politiker noch hohe Beamte wurden bisher zu der Explosion, die im Hafenviertel ganze Häuserreihen dem Erdboden gleichgemacht hat, befragt. Immer wieder blockierten Vertreter der Regierung von Hassan Diab, die nach der Katastrophe des 4. August zurückgetreten und seither nur noch geschäftsführend im Amt ist, die Einvernahmen mit dem Verweis auf die Immunität. Der Vorgänger des derzeit die Untersuchung leitenden Richters wurde überhaupt abgesetzt, nachdem er Vorwürfe gegen zwei Minister erhoben hatte. "Bei einem Verbrechen dieser Größenordnung darf man uns weder die Wahrheit noch die Gerechtigkeit vorenthalten", sagt Ibrahim Hoteit, der seinen jüngeren Bruder Tharwat bei der Explosion verloren hat und nun als Vertreter der Opferfamilien auftritt.

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Dass die Untersuchung nicht vorankommt und sich Politiker wie Präsident Michel Aoun erst jetzt zögerlich zu einer Aussage ohne Rücksichtnahme auf ihre Immunität durchringen, überrascht allerdings kaum jemanden im Libanon. Denn das 6,9-Millionen-Einwohner-Land, das sich mit viel ausländischem Geld aus dem Chaos des Bürgerkriegs (1975 bis 1990) befreit hat, ist nach Ansicht vieler Menschen hier schon lange wieder unterwegs in Richtung gescheiterter Staat.

So leidet der Libanon schon seit bald zwei Jahren an einer der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrisen seiner Geschichte. Die Landeswährung, die libanesische Lira, hat seither mehr als 90 Prozent ihres Wertes verloren. Die Inflation liegt bei mehr als 100 Prozent, für Lebensmittel sind es teilweise sogar mehr als 200 Prozent.

Unter den Folgen der durch die Corona-Pandemie nochmals verschärften Multi-Krise leiden mittlerweile fast alle. So ist der Anteil der Menschen, die in Armut leben, inzwischen auf knapp 60 Prozent gestiegen. Für viele Libanesen ist es mittlerweile sogar zur Herausforderung geworden, Tag für Tag ein Essen auf den Tisch zu stellen.

Doch selbst wer im Libanon noch ein bisschen Geld hat, kann oft nichts dafür kaufen. Wegen Versorgungsengpässen bilden sich vor den Tankstellen lange Schlangen, in den Apotheken fehlt es regelmäßig an Medikamenten. Selbst auf den Strom ist schon lange kein Verlass mehr. An vielen Tagen müssen die Menschen mehrere Stunden ohne Energie auskommen, in der Nacht bleibt es in vielen Vierteln Beiruts oft dunkel.

Dauerschleife im Proporzsystem

Dass sich der kleine Staat am Mittelmeer noch ein zweites Mal aus dem Chaos befreien kann, zeichnet sich derzeit nicht ab. Denn die Misere, in der der Libanon steckt, ist nicht zuletzt das Resultat des komplizierten Proporzsystems, das nach dem Bürgerkrieg etabliert wurde, um den Frieden zu sichern. So muss der Präsident immer ein Christ sein, während Sunniten und Schiiten den Regierungschef beziehungsweise den Parlamentspräsidenten stellen.

Doch was in der Theorie für einen Ausgleich zwischen den Konfessionen sorgen soll, führt in der Praxis meist zu politischer Handlungsunfähigkeit. Die einzelnen Gruppierungen verlieren sich im Kampf um Pfründe und Zuständigkeiten, der politische Alltag wird dafür umso öfter von Klientelpolitik, Vetternwirtschaft und Korruption bestimmt. Entsprechend gering ist auch das Durchsetzungsvermögen des politischen Systems. So dauert es häufig viele Monate, bis eine Regierungsbildung gelingt, und oft genug muss der neue Premierminister bereits nach kurzer Zeit wieder das Handtuch werfen.

Um die zentralen Posten buhlen dabei zumeist die ewig gleichen Köpfe. So versucht derzeit der Geschäftsmann Najib Mikati, der bereits zwei Mal Ministerpräsident war, eine Regierung zu bilden. Dabei wirbt der Milliardär vor allem mit einem Reformplan, der dafür sorgen soll, dass Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und Geberländer wie Frankreich wieder Hilfsgelder zu Verfügung stellen.

Israa Seblani, die Braut von Beirut, will allerdings nicht so lange warten. Sie überlegt, den Libanon mit ihrem Mann zu verlassen. "Wir wollen kein schickes Leben und es geht uns auch nicht ums Geld", sagt die Ärztin. "Wir suchen ganz einfach Sicherheit."

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