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Mit dritter Dosis in der Pionierrolle

Von WZ-Korrespondentin Agnes Fazekas

Politik

Lange galt Israel als Impfwunder, auf das andere Länder mit Neid blickten. Jetzt kämpft der Staat mit der Delta-Variante.


Yogastunde in Tel Aviv: Die Matten liegen dicht aneinander, Ventilatoren verquirlen die feuchtheiße August-Luft. Eine einsame, zerknautschte Einwegmaske liegt bei den Schuhen vor der Tür. Immerhin: Zur Anmeldung mussten die Teilnehmer ihre Grünen Pässe vorzeigen, die sie erst vor ein paar Wochen samt Masken endgültig eingemottet zu haben glaubten. In den meisten Dokumenten steht das bei der Impfung eingetragene Ablaufdatum bald bevor.

Die Lehrerin blickt in die Runde: "Es ist wohl noch nicht vorbei." Dann spricht sie aus, was viele denken: "Wobei ich nicht mehr weiß, was und wem ich noch glauben soll."

Die Stimmung in Tel Aviv erinnert an die Anfänge der Corona- Pandemie, als die neue Realität nur langsam ins Bewusstsein sickerte. Wieder hängen die Masken im Supermarkt unter der Nase, wobei die Menschen im Norden der Stadt, wo die Straßen sauberer sind, etwas obrigkeitshöriger sind. Ansonsten ist nicht viel zu bemerken von der Ausbreitung der Delta-Variante. Dabei wurde längst das Zelt vor dem Rathaus am Rabin-Platz wieder aufgebaut, wartet dort wieder eine Menschenschlange auf den Covid-Test.

Die Hitze mag schuld sein an der allgemeinen Benommenheit, aber mit Sicherheit spielt auch ein Vermächtnis des Ex-Premiers hinein. Benjamin Netanjahu hat das Virus instrumentalisiert - und damit politisiert.

Perfektes Labormodell?

Noch im Frühling blickte die Welt neidisch auf den Mittelmeerstaat: Nirgendwo schien die Impfkampagne so reibungslos zu verlaufen. Netanjahu hatte nicht nur tief in die Staatskasse gegriffen, um die Bürger mit Vakzinen von Biontech/Pfizer zu versorgen, sondern auch deren Daten mitausgegeben. Das Land schien das perfekte Labormodell, mit seinen Bürgern, Überwachung ohnehin gewohnt, als perfekten Testpersonen. Damit feierte sich Israel als Impfweltmeister, und Netanjahu wäre es beinahe gelungen, sich doch noch an die Macht zu klammern.

Nun sind zwar 60 Prozent der 9,4 Millionen Israelis doppelt geimpft; etwa elf Prozent der Bürger wollen sich scheinbar gar nicht mehr immunisieren lassen. Die wenigsten darunter sind jedoch echte Impf-Gegner, die an die große Verschwörung glauben.

Einerseits handelt es sich um ultraorthodoxe Juden, die das Virus entweder als gottgegeben hinnehmen oder glauben, sich bei der weiten Verbreitung in der Gemeinschaft sowieso schon angesteckt zu haben. Andererseits sind es arabische Israelis, die schon lange das Vertrauen ins System verloren haben. Da hilft es nicht, dass der Ex-Premier sich weiterhin auf Twitter und Co als Retter feiert und impliziert, dass die neue Regierung das Virus zurückgebracht hat.

Derweil blickt die Welt erschrocken ins Land der Impf-Pioniere: Der R-Wert, der die Anzahl der Personen anzeigt, die im Durchschnitt von einem Corona-Infizierten angesteckt werden, liegt wieder bei 1,25. Mitte der Woche gab es fast 6.000 neue Fälle. Bisher liegen davon zwar nur 400 Personen mit schweren Verläufen im Krankenhaus. Aber: Nur 140 der Patienten sind ungeimpft - 240 Personen hatten sogar die doppelte Dosis erhalten. Experten schätzen, dass bis Ende des Monats bereits mehr als 1.000 Patienten im Krankenhaus behandelt werden müssen, geimpft oder nicht.

Der Corona-Beauftragte Nachman Asch fand dazu eine simple Erklärung: Da die Delta-Mutation nicht nur ansteckender sei, sondern auch eine leichte Immunflucht vorweise und es in Israel eben sehr viele Geimpfte gebe, sei auch mit vielen geimpften Infizierten zu rechnen. Außerdem vermuten Experten, dass die Wirkung des Vakzins mit der Zeit nachlässt.

Impfungen für Kinder

Israels neuer Premier, Naftali Bennett, legte seinen Kurs schon zu Beginn seiner Amtszeit fest: "Masken statt Einschränkungen, Impfungen statt Lockdowns". Das erneut gegründete Corona-Kabinett hielt sich mit Restriktionen zurück. "Ich richte mich vor allem an die jungen Leute", sagte Bennet damals. "Wenn Ihr keine Einschränkungen möchtet, sprecht mit Euren Eltern und lasst Euch impfen." Nach der Kampagne für die unter 15-Jährigen sollen nun in Ausnahmefällen auch Kinder über fünf Jahren geimpft werden dürfen.

Dazu soll es einen dritten Stich zur Auffrischung geben. Bereits 650.000 Israelis über 60 holten sich diesen vergangene Woche, jetzt sind die Jüngeren an der Reihe. Gründlich untersucht sind die Effekte einer dritten Dosis allerdings noch nicht. Wieder findet sich Israel also in der Pionierrolle.

Drei Wochen bevor das offizielle Schuljahr beginnt, wurde ein weiteres Experiment gestartet: In ultraorthodoxen Orten, wo die Ferien bereits vorbei sind, wurden Kinder auf Antikörper getestet. So sollen immerhin die ständigen Quarantänen in Familien mit Schulkindern vermieden werden. Dabei stellte sich aber heraus, dass sich das Virus mehr unter den Kindern verbreitet hat als zuvor gedacht: Jedes fünfte Kind hatte bereits Antikörper.

Noch versucht Bennett alles, um einen erneuten Kollaps der Wirtschaft zu vermeiden. Auf der anderen Seite hat die Netanjahu-Regierung sich weniger um das Gesundheitssystem gekümmert als um medienwirksame Gesten. Es gilt nun also auch, Personal und Spitalsbetten aufzustocken.

Tiefes Misstrauen

Besonders schwer fällt es dem Kabinett jedoch, die arabische Bevölkerung zur Impfung zu bewegen. Nach jahrzehntelanger Diskriminierung und dem Gaza-Krieg im Mai, der auch innerhalb Israels die Klüfte vertiefte, ist das Misstrauen groß und wird in Sozialen Medien angefeuert.

Der bekannte Schauspieler Ashraf Barhom beispielsweise sagt: "Seit dem Beginn der Krise versuchten es Regierung und Medien mit Drohungen und Einschüchterung." Auf belegbare Daten und Forschungsergebnisse hätten die Bürger viel einsichtiger reagiert, glaubt er. Da wird es wohl auch kaum helfen, dass sich Bennett, selbst ein überzeugter Anhänger der rechten Siedler-Bewegung, nun mit jungen arabischen Influencern trifft.

Gewohnt skrupellos, aber immerhin Tacheles sprechend, äußerte sich seine Parteigenossin und Innenministerin Ayelet Shaked: "Wir nehmen schwere Krankheitsfälle und auch Todesfälle in Kauf, denn es handelt sich um eine Pandemie, und in einer Pandemie sterben Menschen."

Immerhin eine positive Nachricht gibt es: Die Zahl der Todesfälle steigt zwar, allerdings nicht in gleichem Maß wie die Zahl der Neuinfektionen. Selbst wenn die Wirkung des Impfstoffs bereits nachgelassen habe, seien Geimpfte immerhin fünf- bis zehnmal besser geschützt als Ungeimpfte, sagt Professor Nadav Davidovitch von Israels Ärzte-Vereinigung.