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Das amerikanische Fiasko

Von Thomas Seifert

Politik

Im Jahr 2001 wurden die Taliban aus Afghanistan vertrieben, nun übernehmen sie wieder die Macht. Waren 20 Jahre umsonst?


Am nächsten Morgen nahmen wir die Straße nach Karabagh. Wir fuhren durch eine unheimliche, gespenstische Landschaft mit ausgebrannten Lehm- und Ziegelhäusern, die dastanden wie überwaschene Sandburgen am Strand. Als die Taliban die Gegend vor ein paar Jahren erobert haben, haben sie sogar die Weingärten abgebrannt", schrieb die Journalistin Elizabeth Rubin im US-Magazin "The New Republic" im November 2001. Elizebeth und ich waren gemeinsam unterwegs an diesem Morgen, wir waren 20 Minuten später in Khair Khana, auf der Passstraße, die direkt nach Kabul führt. Mitten auf der Straße lagen ein paar Pakistanis und Araber um einen stämmigen Taliban mit rot gefärbten Bart. Sie waren noch nicht lange tot, ihr Blut war noch nicht trocken. Später sollten wir herausfinden, dass es sich bei dem Taliban um einen Mann namens Mahmoud handelte, einen Taliban-Kommandeur, der an diesem Morgen vor den heranrückenden Truppen der Nordallianz fliehen wollte.

In Kabul selbst war das Ministerium für die Verbreitung des Guten und die Verhinderung des Bösen geplündert, die von Saudi-Arabien subventionierte Moralpolizei der Taliban war bei der Bevölkerung der Hauptstadt verhasst. In einem ausgetrockneten Kanal lagen im Schatten von Kiefern die Leichen von Taliban-Kämpfern. Sie waren aus nächster Nähe erschossen worden, irgendjemand hatte die Leichen geschändet, einem der Toten hatte man Geldscheine und Zigarettenkippen in den Mund gestopft, Magnetbänder von Musikkassetten um den Hals gewickelt und der Leiche einen Holzprügel in die Hand gedrückt. Nicht weit davon qualmten noch die Überreste eines Toyota-Pick-ups, der offenbar von einer US-Luft-Boden-Rakete getroffen wurde. Es hatte sich eine Menge um den zerstörten Pkw gebildet, Kinder skandierten: "Fuck Taliban!" und "Nieder mit Pakistan!"

Afghanistan 2001: Ein Kämpfer der Nordallianz sitzt in der Abendsonne am Turm seines Panzers.
© Thomas Seifert

Die Taliban waren von einer Koalition, bestehend aus US-Truppen und Soldaten der afghanischen Nordallianz, seit dem 7. Oktober 2001 bekämpft worden. Nach den Terroranschlägen von New York und Washington, D.C. hatte George W. Bush den Taliban den Krieg erklärt, weil sie dem Drahtzieher der Anschläge, Osama Bin Laden, im Land beherbergt hatten. Denselben Osama Bin Laden übrigens, den die Amerikaner in dessen Dschihad gegen die Sowjets in Afghanistan mit Waffen und Geld unterstützt haben.

Afghanistan 2001: Ein Kämpfer der Nordallianz kurz vor der Offensive gegen die Taliban.
© Thomas Seifert

Nach dem Sturz der Taliban hatten die Vogelhändler in Kabul Hochkonjunktur, die Shops an der Chicken Street freuten sich über westliche Kunden, die bei ihnen Schokoriegel, Nutella, Coca-Cola und andere Luxusartikel einkauften, die Barbiere rasierten im Akkord. Denn viele afghanische Männer ließen sich nach dem Sturz der Taliban die Bärte stutzen. Aus den Taxis drang Hindi-Musik, die Kinder ließen unbeschwert ihre Drachen in den Himmel steigen und vollführten ihre elaborierten Drachenkämpfe, bei denen es darum geht, mit der Glassplitter-bewehrten Leine des eigenen Drachen die Schnur des Drachen des Kontrahenten zu kappen.

Afghanistan 2001: Kinder in Kabul lassen nach dem Fall der Taliban wieder ihre Drachen in den Himmel steigen.
© Thomas Seifert

Der Buchhändler Shah Muhammed Rais, der Eigentümer von Shah M Book Company machte gute Geschäfte, er importierte Rudyard Kiplings Roman "Kim" und Ahmed Rashids Standardwerk über die Taliban aus Pakistan. Rais wurde zum Protagonisten von Asne Seiserstads "Der Buchhändler aus Kabul", der in dem 2002 erschienen Buch Der Buchhändler aus Kabul. Das Intercontinental Hotel war bald voll mit Journalisten, in der Gandamack Lodge konnte man kugelsichere Westen und Kevlar-Helme mieten, im Mustafa Hotel feierte man Parties und im L’Athmosphere gab es französische Küche und Heinecken-Bier aus der Dose.

Afghanistan 2001: Thomas Seifert bei Soldaten der Nordallianz im Oktober 2001.
© Thomas Seifert

Die Stadt atmete auf.

Afghanistan war zuvor seit über zwei Jahrzehnten im Krieg gewesen: Als nach der Sawr-Revolution im April 1978 die afghanischen Kommunisten die Macht ergriffen haben, marschierten sowjetische Truppen im Dezember 1979 im Land ein, um das Regime zu stützen.

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Vor 1978 hatte in Afghanistan fast 50 Jahre Frieden geherrscht, Herat und Kabul waren beliebte Stops für die VW-Bulli-Busse am sogenannten Hippie-Trail, der über Istanbul und Teheran bis Goa und Bangkok führte und der damals junge Leute aus ganz Europa anzog.

Nach dem Einmarsch der UdSSR begannen die USA, islamistische Mudschahedin-Gruppierungen zu unterstützen, die sich als Reaktion auf die Säkularisierung Afghanistans gebildet hatten und die Widerstand gegen die Sowjet-Armee leisteten. Getreu dem Motto des Kalten Krieges - der Feind meines Feindes ist mein Freund - stilisierten die USA die Mudschahedin zu Freiheitskämpfern hoch. Die Sowjets investierten beträchtliche Summen in das Bildungs- und Gesundheitssystem und in die Infrastruktur des Landes - und natürlich in die afghanische Armee.

Afghanistan 2001: Zwei Kämpfer der Nordallianz sichern einen Kontrollposten am Salang-Pass.
© Thomas Seifert

Schlüssel zum Meereszugang

Für die Sowjetunion war Afghanistan der Schlüssel, um von den zentralasiatischen Sowjetrepubliken eines Tages einen Zugang zum Arabischen Meer zu bekommen, der Salang-Pass mit seinem über 2,5 Kilometer langen Tunnel war schon Mitte der 60er von sowjetischen Ingenieuren gebaut worden und er ist bis heute die einzige Passstraße über den Hindukusch, die auch im Winter passierbar ist und die wichtigste Nord-Süd-Verbindung. Und am Hippie-Trail sind zwar keine jungen Leute in VW-Bussen mehr unterwegs, aber die Straße von Maschad im Iran über Herat und Kabul in Afghanistan bis Peschawar und Islamabad in Pakistan ist bis heute die bedeutendste West-Ost-Verbindung der Region.

Geografie bestimmt die Politik: Die Tatsache, dass Afghanistan am Kreuzungspunkt von Nord-Süd- und Ost-West-Routen liegt, machte das Land seit jeher zu einem begehrten Ziel von Großmächten. Schon im "Great Game", im geopolitischen Ringen zwischen dem British Empire und dem Zarenreich um Macht und Einfluss in Zentralasien, war Afghanistan ein heiß umfehdetes Land. In der Schlacht von Gamdamak wurden die Briten im Jänner 1842 von afghanischen Einheiten dezimiert, eine Ausdehnung des britischen Raj von Indien nach Zentralasien war gestoppt.

Und während es Briten und Sowjets um diese strategische Position Afghanistans gegangen war, war der strategische Nutzen des Landes für die militärische und politische Führung in Washington zuletzt nicht mehr erkennbar. Die Militärs hätten sich wohl gerne weiter eine Präsenz in Zentralasien gewünscht - nicht zuletzt, um über den Wakhan-Korridor Einfluss auf den Westen Chinas auszuüben oder um von Afghanistan aus den Osten des Iran zu bedrohen, aber mit dem Abzug aus dem Irak im Jahr 2011 war ein möglicher Zangenangriff auf den Iran endgültig vom Tisch und mit der deutlichen Verschlechterung der Beziehungen zwischen den USA und Pakistan (Islamabad hat seine Bande mit Peking zuletzt enger geknüpft) hätte es längerfristig an sichereren Nachschubwegen gemangelt.

Können die Taliban regieren?

Das Problem, vor dem Joe Biden stand: Die geringe Truppenstärke von 2.500 US-Soldaten in Afghanistan war nur möglich, weil sein Amtsvorgänger Donald Trump einen Waffenstillstand mit den Taliban ausgehandelt hat. Hätten die Taliban ihren militärischen Druck erhöht, dann hätte Biden die Zahl der Soldaten am Hindukusch massiv erhöhen müssen. Und selbst dann hätte die Gefahr bestanden, dass die US-Armee gleichsam unter Taliban-Beschuss das Land verlassen hätte müssen.

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Nun herrschen die Taliban nach 20 Jahren wieder über Afghanistan. Doch können sie das Land auch regieren? Drei von vier Afghanen unter 25 Jahren alt: Diese Afghaninnen und Afghanen sind zu jung, um sich an das Schreckensregime der Taliban vor dem Jahr 2001 zu erinnern. Vor allem jene, die in den Städten leben, haben sich längst an gewisse Freiheiten gewöhnt und werden diese nicht widerstandslos aufgeben.

Die Rückkehr der Taliban macht auch einmal mehr den Konflikt zwischen den Konservativen am Land und den progressiven Städtern sichtbar: Denn in den religiös geprägten ländlichen Regionen wurde die Rückkehr der Taliban zum Teil sehnlich erwartet, zum Teil wurde sie als zumindest unvermeidlich hingenommen. In den Städten hingegen formieren sich seit Tagen Protestkundgebungen gegen die ultrakonservativen Dschihadisten. Diese Generation, die von der Post-2001-Realität im Land geprägt wurde, ist besser vernetzt und besser gebildet: 2001 gab es in Afghanistan kein funktionierendes Mobilfunknetz, heute haben 26,92 Millionen Afghaninnen und Afghanen ein Mobiltelefon, 7,65 Millionen Afghanen nutzen das Internet, 3,6 Millionen Menschen in Afghanistan sind auf Social-Media-Plattformen aktiv. Die Moderne hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch im Land am Hindukusch Einzug gehalten. Die Taliban versuchen sich daher in einer Charmeoffensive: Jene, die vor über 20 Jahren Frauen im Stadion auspeitschen und exekutieren ließen, beteuern nun, dass niemand Angst zu haben brauche. Die misogynen religiösen Fanatiker wollten ihren Sinneswandel in Sachen Frauenrechten unter Beweis stellen, indem sie der Journalistin des afghanischen Nachrichtensenders Tolo News Beheshta Arghand die Gelegenheit gaben, den Taliban-Vertreter Mawlawi Abdulhaq Hemad zu interviewen.

Die USA haben mehr als zwei Billionen Dollar in das Afghanistan-Projekt gesteckt, 2.452 amerikanische Soldaten haben in den vergangenen Jahren in Afghanistan ihr Leben verloren, dazu zigtausende Afghaninnen und Afghanen.

Nun kontrollieren die Taliban mehr Land als 2001, als sie mithilfe der USA von der Macht vertrieben wurden. Mit den Waffen der von den USA hochgerüsteten afghanischen Armee sind sie auch besser gerüstet denn je. Und nach den Briten und den Sowjets haben islamistische Kämpfer in Afghanistan nun auch die Vereinigten Staaten besiegt. Afghanistan hat sich einmal mehr als Friedhof der Imperien erwiesen, das wird nicht nur das Selbstbewusstsein der Taliban stärken, sondern "allen extremistischen Organisationen rund um den Globus einen Auftrieb geben", wie der österreichische Islamwissenschaftler an der Universität Wien, Rüdiger Lohlker, in einem Interview mit der "Wiener Zeitung" analysiert.

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Für die Amerikaner sind George W. Bushs Kriege eine bittere Niederlage: Mit dem Abzug aus Afghanistan ist der längste Krieg der modernen Geschichte der USA beendet: Er dauerte von Oktober 2001 bis August 2021. Nicht nur, dass der damalige Präsident Donald Trump und sein Außenminister Mike Pompeo im Februar 2020 in Doha ein für die USA wenig vorteilhaftes Abkommen mit den Taliban unterzeichnet haben - dieses Abkommen war auch ohne die Beteiligung der afghanischen Regierung und der Nato-Partner zustande gekommen.

Die Fehler Washingtons

Die USA haben in Afghanistan - ähnlich wie die UdSSR Ende der 1970er - darauf gesetzt, eine von einer nationalen Regierung in Kabul geführte Nation aufzubauen, während die Taliban in den vergangenen Monaten und Jahren längst Deals mit regionalen Stammesfürsten geschlossen haben und auf die tribalistischen Strukturen des Landes aufgebaut haben. In einer breiten Offensive nahmen die Taliban innerhalb von 10 Tagen alle Provinzen ein und als Präsident Ashraf Ghani am 15. August über Tadschikistan in die Vereinigten Arabischen Emirate geflohen ist, brach der Widerstand rasch zusammen und Kabul fiel.

Die ikonischen Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis einbrannten: verzweifelte pro-westliche Afghanen, die sich bis zum Take-off an eine abfliegende C-17 klammern und in den Tod stürzen. Der Frachtraum einer bis zum Bersten mit afghanischen Geflüchteten gefüllten C-17-Flugzeugs. Und ein Bild eines über der US-Botschaft schwebenden Chinook-Doppelrotor-Hubschraubers, das frappant einem Foto, das 1979 beim Abzug der Amerikaner aus Saigon entstanden ist, ähnelt.

Für die USA ist die Niederlage in Afghanistan eine Schmach: Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die Vereinigten Staaten keine einzige bedeutende militärische Auseinandersetzung für sich entscheiden können: weder den Krieg in Korea, noch jenen in Vietnam. Die Intervention in Afghanistan hat sich letztlich ebenso als Fehlschlag erwiesen wie die Invasion im Irak. Von dort haben sich die US-Truppen bereits 2011 zurückgezogen. Tatsächlich: Kabuls Fall kann durchaus mit dem Sturz des Schah 1979, dem Fall von Saigon 1975 oder der kubanischen Revolution von Fidel Castro im Jahr 1959 verglichen werden.

Die politischen Eliten von Moskau über Teheran bis Peking fühlen sich bestätigt: In ihren Augen wankt das amerikanische Imperium. In Washington, D.C. sieht man das naturgemäß anders: Das ursprüngliche Ziel - den Drahtzieher des 11. September, Osama Bin Laden, zur Strecke zu bringen, wurde im Mai 2011 erreicht, Afghanistan ist für die USA von untergeordneter strategischer Bedeutung, Amerika rüstet sich längst für die Rivalität mit China, der Schwerpunkt von Amerikas Militärpräsenz verschiebt sich weiter Richtung Osten.

Das chinesische Parteiorgan "Global Times" gibt die Richtung vor: Chinas Fokus auf ökonomische Entwicklung - Stichwort: Seidenstraße - sei eine Alternative zu Amerikas "Panzerstraße" - der neokolonialen militärischen Hegemonie der USA. In einem Leitartikel werden auch Lehren für Taiwan gezogen: Wenn die USA schon aus Afghanistan abziehen würden, wo der Blutzoll und der wirtschaftliche Schaden gering seien, wie wäre es dann erst bei einem Konflikt um Taiwan? Die Führung in Taipeh solle sich nicht zum strategischen Faustpfand der USA machen lassen, wo sie nur "die bitteren Früchte des Krieges ernten" würde.

Und die Europäer mussten lernen, dass sie zwar den USA bei ihren Weltpolizei-Einsätzen zu Diensten sein sollen (Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien haben die USA in Afghanistan unterstützt), als es aber um den Truppenabzug ging, wurden die Alliierten viel zu spät informiert.

Philip Stevens weist in der "Financial Times" auf die Symmetrie zwischen Bush und Biden hin: Bush hat die Nato nicht über den Einmarsch in Afghanistan konsultiert, Biden hat die europäischen Partner über den Abzug im Dunklen gelassen. "Eines Tages wird Europa zugeben müssen, dass die alte Ordnung zerfallen ist, und begreifen, dass in einer Ära der Großmächte-Konkurrenz die Beziehungen zwischen Verbündeten einerseits und Gegnern andererseits rauer werden.