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Im Käfig der Taliban

Von Martyna Czarnowska und Michael Schmölzer

Politik

Die Islamisten sind auf Afghanistans Intelligenz angewiesen. Ab dem 31. August wollen sie die Grenzen dicht machen.


US-Präsident Joe Biden will die Afghanen mit dem 31. August sich selbst überlassen. Er nimmt damit bewusst in Kauf, dass unzählige gefährdete Menschen den Taliban in die Hände fallen. Allerdings lässt sich der US-Demokrat eine Hintertür offen: Er hat das Pentagon und das Außenministerium beauftragt, "Notfallpläne" für weitere Evakuierungen zu entwerfen, sollte eine Anpassung des Zeitplans nötig werden. Die Taliban würde ihre Grenzen lieber heute als morgen völlig dicht machen.

Warum hat es Präsident Biden mit dem Ende der Evakuierungen so eilig?

Die Entscheidung, alle US-Soldaten rasch und unwiderruflich aus Afghanistan abzuziehen, ist schon jetzt ein innenpolitisches Fiasko für Joe Biden. Der Zusammenbruch der afghanischen Armee und die Bilder vom Chaos am Kabuler Flughafen lassen keinen Zweifel zu, dass die USA hier eine bittere Niederlage erlitten haben. Sollte es nun tatsächlich, wie befürchtet, zu einem Anschlag des IS auf dem Flughafen in Kabul kommen und würde das US-Soldaten das Leben kosten, wäre das Fiasko für Biden perfekt. Er müsste dann tatsächlich unter Umständen um sein eigenes politisches Überleben bangen. Dazu kommt, dass eine abermalige Fristverlängerung den Eindruck verstärken würde, dass Biden im Fall Afghanistan keinen Plan hat und hilflos im Strudel der Ereignisse untergeht.

Warum sind die Taliban dagegen, dass Afghanen ins Ausland fliehen?

Die Fundamentalisten wollen - anders als vor mehr als 20 Jahren - ihre Herrschaft auf solide Beine stellen. Dafür brauchen sie die Intelligenz des Landes, gut ausgebildete Ingenieure, Ärzte, Wissenschafter und Lehrer. Und gerade die drohen jetzt vor ihren Augen in Massen das Land zu verlassen. Den Islamisten fehlt bereits jetzt in zentralen Bereichen das nötige Know-how, so haben sie in ihren Reihen niemanden, der etwa weiß, wie man moderne Kampfjets fliegt.

Über welche Waffen verfügen die Taliban?

Den Islamisten ist gleichsam über Nacht das beträchtliche, vom Westen bereitgestellte Waffenarsenal der afghanischen Armee in die Hände gefallen. Die Liste der Kriegsbeute laut der deutschen "Bild"-Zeitung: 16 "Black Hawk"-Transporthubschrauber und 157 andere Hubschrauber. 34 Kampfjets, etwa 1.000 Schützenpanzer, 70 Raketenwerfer und 1.394 Granatwerfer. Dazu kommen mehr als 7.000 Maschinengewehre, 20.000 Handgranaten und 390 Laserzielsysteme. Auf Propagandavideos der Taliban ist zu sehen, dass sich ihre Elitesoldaten optisch nicht mehr von westlichen Einheiten unterscheiden lassen.

Können die Europäer die Evakuierungen notfalls nicht allein weiterführen?

Mehrere Staaten hatten dafür plädiert, dass die USA den Termin 31. August für das Ende der Evakuierungen verschieben. Denn eines war gewiss: Ohne die Vereinigten Staaten wäre das Ausfliegen tausender Menschen nicht möglich. Denn es ist die US-Armee, die den Großteil der Logistik und Infrastruktur stellt, ebenso etliche Flugzeuge selbst. Das war seit Beginn der internationalen Truppenpräsenz in Afghanistan der Fall. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel fasste es in einer Regierungserklärung so zusammen: Dass der gesamte Einsatz mit der Haltung der USA als militärisch Stärksten im Bündnis stehen und fallen werde, sei immer klar gewesen.

Warum lässt Österreich keine Afghanen ausfliegen?

Bis Mittwoch wurden 76 österreichische Staatsbürger mit afghanischen Wurzeln beziehungsweise Menschen mit Aufenthaltsberechtigung in Österreich ausgeflogen, teilte das Außenministerium mit. Dass aber das Land freiwillig afghanische Flüchtlinge aufnehme, komme nicht in Frage - das haben mehrere Regierungspolitiker immer wieder betont. Zuletzt wies Außenminister Alexander Schallenberg erneut auf die ÖVP-Linie hin: Die Reaktion auf die derzeitige Krisensituation könne nicht sein, "wir bringen jetzt so viele wie möglich nach Europa". Österreich wirbt stattdessen dafür, die Nachbarstaaten Afghanistans bei der Versorgung der Flüchtlinge in die Pflicht zu nehmen.

Wird es in Europa zu einer Flüchtlingswelle ähnlich wie 2015 kommen?

Wenn etwa der deutsche Innenminister Horst Seehofer damit rechnet, dass bis zu fünf Millionen weitere Afghanen die Flucht ergreifen, können das nur Spekulationen sein. Zwar wurden hunderttausende Menschen durch Kampfhandlungen vertrieben, aber die meisten sind Binnenflüchtlinge oder harren an den Grenzen zu Pakistan oder dem Iran aus. Etliche wollen in ihre Städte und Dörfer zurückkehren, sobald sie sich sicher fühlen. Umgekehrt wollen nicht alle, die ihr Land verlassen möchten, nach Europa kommen. Zielländer können auch die USA oder Kanada sein - falls die Menschen überhaupt ausreisen dürfen, was die Taliban ja verhindern wollen.