Zum Hauptinhalt springen

"Wir schaufeln unser eigenes Grab"

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

UN-Generalsekretär Antonio Guterres wählte zu Beginn der Klimakonferenz in Glasgow drastische Worte.


Hunderte von Delegierten, Wissenschaftern und Aktivisten, die zu Wochenbeginn in London den Zug zum großen Weltklima-Gipfel in Glasgow nehmen wollten, erwartete im Bahnhof Euston eine Überraschung. Plakate in der Bahnhofshalle dankten ihnen dafür, dass sie "öko-freundlich mit dem Zug reisen" würden, statt in Schottland einzufliegen.

"No Time For Delay", keine Zeit mehr für Verzug, war auf einer riesigen Leuchttafel, hoch über den Köpfen der Eingetroffenen, im Blick auf die bevorstehenden Klima-Verhandlungen zu lesen. Nur: Auf der Tafel gleich daneben, die die Abfahrtszeiten der Züge nach Glasgow zeigen sollte, gab es einen "Delay" nach dem anderen, waren Verbindungen reihenweise abgesagt. Wilde Stürme, teils in Tornado-Stärke, hatten das Zugsystem lahmgelegt. Umgestürzte Bäume und eingebrochene Leitungen versperrten Konferenz-Teilnehmern wie Demonstranten den Weg zu Cop26, dem Klima-Gipfel.

"Wie bezeichnend" diese Situation sei, könne "ja niemandem verborgen bleiben", seufzte die Mitbegründerin der Umweltgruppe 350.org, Ellen Gibson. Professor Simon Lewis, ein ebenfalls feststeckender Klimaforscher vom University College London, sah im unverhofften Stopp der Züge "eine Erinnerung daran, dass Klimawandel notwendig zu extremen Wetterlagen führt - und jedes Land sich dem anpassen muss". Einige Cop26-Delegierte, wie David Johnson, Chef eines Wohlfahrtsverbandes, kehrten den Glückwunsch-Postern in Euston den Rücken und entschieden sich dafür, nun halt doch von Gatwick nach Glasgow zu jetten. Natürlich verstehe er, "wie lächerlich" das sei, meinte Johnson: "Pure Ironie - dass man nur mit dem Flieger zu einer Klimawandel-Konferenz kommen kann."

Besorgnis bei Armen

In Glasgow selbst begann man sich derweil gerade erst von den Überschwemmungen zu erholen, die Mitte voriger Woche weite Straßenzüge unter Wasser gesetzt hatten. Die es rechtzeitig und trockenen Fußes in die Stadt schafften, sprachen hernach von der Hoffnung, per Cop26 einiges mehr zu verhindern als nur ein paar überflutete Straßen, entwurzelte Bäume und kriselnde Verkehrssysteme im Vereinigten Königreich.

Verglichen mit dem, was auf die südliche Hälfte der Erde zukomme, meinten einzelne Forscher, seien die aktuellen Reisebehinderungen in England und Schottland nämlich "wirklich nichts", die reinste Bagatelle. Das war auch die Überzeugung der angereisten Vertreter der ärmsten und der vom Klimawandel am meisten bedrohten Länder der Erde, die von den Ergebnissen des vorangegangenen G20-Gipfels in Rom durchweg enttäuscht waren und sich "äußerst besorgt" zeigten über die Aussichten von Cop26. Gaston Browne etwa, der Premierminister von Antigua und Barbuda, der "das Bündnis der kleinen Inselstaaten" anführt, erklärte zum Auftakt des Treffens, er gehe davon aus, dass die Welt den nun in Aussicht genommenen Zielwert eines Temperaturanstiegs um höchstens 1,5 Grad Celsius unweigerlich überschreiten werde. "Das aber", meinte er, "ist eine Frage des Überlebens für uns."

Düstere Szenarien

Düstere Szenarien für die Zukunft der Erde hatten auch die Klimaexperten der Vereinten Nationen vor der Konferenz gezeichnet. Gegenwärtig habe man schon einen Anstieg um 1,1 Grad Celsius erreicht. Aber wenn nichts geschehe, sei man schnell bei 2,7 Grad angelangt. Und was das bedeute, sei inzwischen hinlänglich bekannt - bedrohlich wachsende Wasserstände, versinkende Inseln und Küstenstriche, ausgetrocknete Ländereien, Hitzewellen und Feuersbrünste, Menschen ohne Nahrung und ohne Obdach, Migrationsströme beispielloser Art.

Großbritanniens Premier Boris Johnson, der die auf zwei Wochen angelegte Konferenz als Gastgeber gestern mit einem zweitägigen Gipfel der Staats- und Regierungschefs eröffnete, schlug einen ähnlichen Ton an, dem es an Dringlichkeit nicht fehlte. Es sei "eine Minute vor Mitternacht - jetzt muss gehandelt werden", warnte er. Wer je einen James-Bond-Film gesehen habe, kenne dieses "Doomsday"-Gefühl, diese Weltuntergangsängste, bei der man die Uhr gnadenlos ticken höre. Beim Klimawandel aber gehe es eben nicht um einen Film, sondern um bittere Realität. Vom ewigen Reden müsse man jetzt "zu konkreter, weltweit koordinierter Aktion betreffs Kohle, Autos, Geld und Bäumen" übergehen, appellierte der Brite an die versammelten 120 Staats- und Regierungschefs und die Repräsentanten weiterer 80 Staaten. Wenn man das jetzt nicht erreiche, wäre es "zu spät für unsere Kinder, das morgen noch zu tun".

In der Tat hat Johnson schon seit Tagen in der für ihn typischen Art mal finsterste Bedrückung und mal sonnige Zuversicht anklingen lassen. Zum einen hat er erklärt, das Glasgow-Treffen könne, bei etwas gutem Willen der Beteiligten, "der Anfang vom Ende des Klimawandels" sein. Andererseits müsse man "ehrlich" sagen, dass man das 1,5-Grad-Ziel, so wie alles aussehe, "wohl verfehlen" werde. Denn die bisher abgegebenen Versprechen vieler Länder im Kampf gegen Klimawandel seien nicht viel mehr als ein winzig kleiner, kühlender "Tropfen in einem rasch sich erwärmenden Ozean".

Kaum irgendwo hat sich wohl je eine so illustre Runde eingefunden, um unter solchem Druck zu Resultaten zu kommen, wie bei diesem Gipfel. Aus Washington war via Rom US-Präsident Joe Biden, aus New York UN-Generalsekretär Antonio Guterres angereist. Guterres nahm in Glasgow kein Blatt vor den Mund. Er erklärte, wer im Gefühl lebe, es gehe zügig voran im Kampf gegen Klimawandel, sitze schlicht einer "Illusion" auf. Stattdessen nähere man sich dem "Kipp-Punkt". "Wir schaufeln unser eigenes Grab", so Guterres. Zum sichtlichen Unbehagen vieler Cop26-Teilnehmer schlug er vor, dass Bestandsaufnahmen der Lage nicht mehr alle fünf Jahre stattfinden sollten, wie in Paris vereinbart, sondern jedes Jahr.

Chinas Xi fehlte

Nicht in Person vertreten waren in Glasgow die Präsidenten Chinas und Russlands, Xi Jinping und Wladimir Putin, die unter Verweis auf Covid abgesagt hatten. Immerhin haben Gesundheitsexperten die Erwartung geäußert, dass sich Cop26 mit seinen annähernd 30.000 Teilnehmern als "Superspreader" erweisen wird. Weil sie nicht selbst zum Gipfel kamen, mussten sich Xi und Putin mit der Übermittlung von Positionsdokumenten aus Peking und Moskau bescheiden. Nicht einmal persönliche Erklärungen per Zoom abzugeben, war ihnen erlaubt. Das blieb den vor Ort Anwesenden vorbehalten - ob sie nun brav maskiert im Saal saßen oder nicht.

Nicht nach Glasgow gekommen war auch Ihre Majestät, Königin Elizabeth II., die dem Treffen aus Gesundheitsgründen und "mit großem Bedauern" fernbleiben musste. Dafür trat bei der Eröffnungsfeier Prinz Charles als Repräsentant der Krone auf.

Charles, der seit vielen Jahren vor Umweltgefahren warnt, hatte ja schon am Wochenende in Rom verkündet, dass die Menschheit sich vor ihrer "allerletzten Chance" sehe - und bei einer Lösung des Problems vor allem auf den privaten Sektor setzen müsse. In Glasgow erklärte der Prinz, die Welt müsse sich nun endlich "für Krieg rüsten" gegen globale Erwärmung, gegen diesen schlimmsten, diesen fürchterlichen Menschheitsfeind.

Ziviler Ungehorsam

Skepsis mischt sich jedenfalls in die Hoffnung der vielen tausend Demonstranten und Klimaaktivisten, die nach Glasgow gezogen sind oder noch ziehen wollen, um dort "Druck zu machen". Greenpeace, das diese Woche mit seinem Flaggschiff "Rainbow Warrior" den River Clyde zum Konferenzzentrum hinaufsegeln will, hat Politikern vorgeworfen, es fehle ihnen schlicht "an Ehrgeiz und an Vision".

Manche, denen das Thema unter den Nägeln brennt, sind in einer "Pilger-Prozession" zu Fuß aus Europa nach Schottland marschiert. "Protesttage" sind nun geplant, Schulbesuche, Aktionen zivilen Ungehorsams, "wo nötig". Greta Thunberg ist ein begeisterter Empfang bereitet worden: Sie hatte es gerade noch vor dem großen Sturm im Zug nach Glasgow geschafft.