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Einer von Tausenden

Von WZ-Korrespondentin Daniela Prugger

Politik

Ein Jahr nach offiziellem Kriegsende trauern viele armenische Familien um die Gefallenen der Kämpfe um Bergkarabach. Unter ihnen war auch der Soldat Aram Muradyan. Er starb an seinem Geburtstag.


Der 15. Oktober war immer ein Tag, an dem gefeiert wurde. Doch in diesem Jahr erfüllt Schluchzen das Haus von Familie Muradyan. In Schwarz gekleidete Frauen und Kinder sitzen an gedeckten Tischen und weinen, während die Männer nachdenklich draußen vor der Tür rauchen. Aram Muradyan hätte an diesem Tag 24 Jahre alt werden sollen. Gekleidet in seiner Uniform, blickt er lebensgroß von einem Gemälde auf seine Verwandten und Nachbarn herab, die im Wohnzimmer an ihn denken und an das Leben, das noch vor ihm lag.

Doch vor einem Jahr ist Aram Muradyan im Krieg um die umkämpfte Region Bergkarabach gefallen. Am 15. Oktober, seinem Geburtstag. "Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, dann wüssten wir zumindest, dass er nicht umsonst gestorben ist", sagt seine ältere Schwester Tatevik, die Flugzettel mit Bildern und Texten über den Verstorbenen verteilt. Die 30-Jährige trägt ein silbernes Amulett über ihrem schwarzen Rollkragen-Pullover, es zeigt das Gesicht ihres Bruders.

Aram Muradyan wuchs in einem Dorf auf, das sich zwischen Gjumri, der zweitgrößten Stadt Armeniens und der Landesgrenze zur Türkei befindet. Viele Männer aus dieser Gegend gehen als Hilfsarbeiter nach Russland, während ihre Frauen zuhause den Gemüsegarten bestellen und ein wenig Vieh halten. Muradyan, jüngstes von vier Kindern und einziger Sohn, besuchte die Militärakademie. Er zählte zu den Ersten, die eingezogen wurden, als Aserbaidschan am 27. September 2020 die Region Bergkarabach angriff und damit den dritten und bisher heftigsten Krieg zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken auslöste.

Mit Drohnen gegen Uralt-Geschütze

Bergkarabach, flächenmäßig knapp doppelt so groß wie das Burgenland, liegt auf dem Staatsgebiet Aserbaidschans, wurde aber lange überwiegend von Armeniern bewohnt. Das Wiederaufflammen des Konflikts hatte sich in den Monaten davor angedeutet, als bei Grenzgefechten zwischen den beiden Ländern zwei Dutzend Menschen umkamen. Für die schwerste Eskalation seit Jahren machen sich beide Seiten gegenseitig verantwortlich.

Während Aserbaidschan mit modernen Waffen und Drohnen aus Israel und der Türkei kämpfte, blieben Armenien Geschütze aus der Sowjetzeit. Doch über diese militärische Unterlegenheit wurde in Armenien kaum gesprochen - dafür sorgten die mediale Zensur und die Staatspropaganda, die ein Bild von mutigen jungen Männern malte, die ihr christliches Land gegen den muslimischen Erzfeind verteidigen.

Mehr als 3.700 armenische Soldaten wurden in den 44 Kriegstagen getötet, tausende Einwohner infolge der Kämpfe vertrieben. So lautete die traurige Bilanz, die der armenische Premierminister Nikol Pashinyan im Sommer zog. Gegen ihn und seine Regierung richtet sich die Wut, die Tatevik Muradyan seit dem Tod ihres Bruders in sich trägt. Er wurde in einen Krieg geschickt, den Armenien nicht gewinnen konnte.

An seinem ersten Todestag steht neben dem Grab von Aram Muradyan ein Blumenbouquet: Wie für einen Geburtstag gedacht, zeigt es das Alter des Toten, die Trauergemeinde lässt Luftballons in Form von weißen Tauben in den Himmel aufsteigen. Beinahe alle aus dem Dorf sind gekommen, um der Familie das Gefühl zu geben, dass Aram Muradyan nicht vergessen wird. In der ersten Reihe steht die Mutter, die ansonsten kaum noch das Haus verlässt. Als die Regierung ihr eine finanzielle Entschädigung für den Tod des Sohnes überwies, meinte sie: "Wir brauchen das Geld dieser Verräter nicht."

Am 23. April 2018 erlebte Armenien seine sogenannte "samtene Revolution", als der damalige zunehmend autoritäre Ministerpräsident Sersch Sargsjan sich den friedlichen Protestierenden beugen musste, die gegen sein System aus Korruption und Misswirtschaft auf die Straße gingen. An die Macht kam der Oppositionspolitiker Nikol Pashinyan. Er versprach einen Neuanfang, sagte den korrupten Eliten den Kampf an - und rief zur Wiedervereinigung auf: "Bergkarabach ist Armenien" , sagte er in einer Rede im Jahr 2019, und seine Anhänger jubelten. Von der aserbaidschanischen Bevölkerung und ihrer autoritären Führung wurde die Aussage als Provokation empfunden.

Russland weitet seinen Einfluss in der Region aus

Viele Wähler, Beobachter und Oppositionspolitiker machen Pashinyan heute nicht nur für die Niederlage des Landes, den Kontrollverlust über weite Teile von Bergkarabach und die vielen Toten verantwortlich. Sondern auch dafür, dass der Krieg überhaupt ausgebrochen ist. "Die Wut der Bevölkerung über die gescheiterte Führung und den Zustand des Landes während der letzten 30 Jahre, wird sich in den kommenden Jahren erst noch richtig manifestieren", sagt der Politikbeobachter und Kommentator Eric Hacopian. "Viele 19- und 20-jährige Soldaten starben wegen militärischer und politischer Inkompetenz."

Im Rahmen des Friedensabkommens vom 10. November 2020 wurden knapp 2.000 Friedenssoldaten der militärischen Schutzmacht Russland nach Karabach und in den sogenannten Lachin-Korridor entsandt, der die Karabach-Hauptstadt Stepanakert mit Armenien verbindet. Damit weitet Russland, der wichtigste Verbündete Armeniens, seinen Einfluss in der Region weiter aus, wie auch die Türkei, der wichtigste Verbündete Aserbaidschans. Manche Beobachter gehen so weit, Putin und Erdogan als die eigentlichen Gewinner des Krieges zu bezeichnen.

Obwohl der Krieg seit einem Jahr offiziell als beendet gilt, verletzte Aserbaidschan Mitte Oktober den Waffenstillstand. Sechs armenische Soldaten wurden verwundet. "Dieser Waffenstillstand bedeutet Hoffnung für Armenien. Kein vernünftiger Mensch würde einen weiteren Krieg wollen", sagt Politikbeobachter Hacopian. "Doch das aserbaidschanische Regime, und damit meine ich den Präsidenten Ilham Alijew, will nicht, dass die aktuelle Situation einfriert. Er will Bergkarabach in eine Art Gaza verwandeln. Denn sobald dieser Konflikt beendet wird, kann er nicht mehr von seinen innenpolitischen Problemen und Misserfolgen ablenken."

Wie viele in Armenien wirft auch Hacopian Aserbaidschan vor, dass es dem Land in Bergkarabach um ethnische Säuberungen ging. Der armenische Ombudsmann für Menschenrechte berichtet davon, dass armenische Kriegsgefangene gefoltert worden seien. Videos, auf denen die Leichen getöteter Soldaten geschändet werden, kursieren auf dem Nachrichtendienst Telegram.

Armenien zog deshalb vor kurzem vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag und versucht die Menschenrechtsverletzungen in einem Rechtsstreit vor der internationalen Gemeinschaft zu klären.

Bis dahin werden die schrecklichen Aufnahmen, die täglich in den sozialen Medien geteilt werden, jedoch dazu beitragen, dass sich viele junge Menschen im Land radikalisieren, so Hacopian. "Diese Bilder überzeugen heute viele davon, dass es im Krieg nicht um Bergkarabach ging, sondern um einen erneuten Völkermord an Armeniern."

"Eine ganze Generation hat für den Sieg gekämpft"

Tatevik Muradyan sitzt mit ihren Schwestern auf der Rückbank, während der silberne Mercedes sich auf einer kaum befahrenen Straße zwischen felsigen Hügeln mit Hagebutten-Sträuchern entlangschlängelt. Nach zehn Minuten bleibt das Auto stehen. Neben der Straße breitet sich ein kleiner Wald aus, dessen Blätter der Herbst in ein kräftiges Gelb gefärbt hat. Der Boden ist bedeckt mit ihnen, wie ein Teppich. Ihrem Bruder hätte die Kulisse gefallen, sagt Tatevik Muradyan. "Das hier war sein Lieblingsort."

An einem Grillstand hält sie inne und deutet auf eine Sitzschaukel, die den Namen Aram trägt. Auch eine Straße im Dorf wurde mittlerweile nach ihm benannt. "Eine ganze Generation hat für den Sieg gekämpft", sagt die junge Frau. Sie weiß, dass nicht alle Soldaten so in Erinnerung bleiben werden wie Aram.