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Was vom IS blieb

Von WZ-Korrespondent Markus Schauta

Politik

In der ehemals schwer umkämpften irakischen IS-Hochburg Falludscha gefährden Sprengkörper das Leben der Menschen.


Ein mehrere Meter breiter Streifen aufgewühlter Erde zieht sich durch ein Feld aus vertrockneten Büschen. Die Gabel eines auffällig langen Baggerarms senkt sich und reißt ein weiteres Stück sandigen Bodens auf.

An diesem Vormittag hat die Schaufel nur Erde und Steine zutage gefördert. Doch der Schein trügt. "In dem Areal konnten wir bis bisher fünf IEDs sicherstellen", sagt Rami Mujali, technischer Leiter des Halo Trust-Projekts im Dorf Albu Mansour.

Die hier gefundenen Sprengstoffe sind Erbe des letzten Krieges, der von 2014 bis 2017 weite Teile Iraks ruinierte. Wohnhäuser, Infrastruktur, Straßen und Felder sind mit hunderttausenden von Landminen, Sprengfallen und nicht-explodierter Munition verseucht. Die britische Organisation Halo Trust sucht seit 2018 in den irakischen Provinzen Anbar und Salaheddin nach diesen Todbringern. Seit dem 3. November 2021 arbeitet sie in dem Dorf nahe Falludscha.

"Der IS hat diese IEDs vergraben, um die irakische Armee bei ihrem Vormarsch auf Falludscha zu verlangsamen", sagt Mujali. Nach der Befreiung der Stadt habe das Militär zwar die Minen entlang der Straße geräumt, nicht aber jene in den Feldern und Häusern. Auch die Leute von Halo Trust werden nicht jede einzelne Mine im Umfeld des Dorfes finden. "Wir konzentrieren uns darauf, die bewohnten Gebiete zu säubern", so der Sprengstoffexperte.

Detektoren oder Bagger

Bevor sie mit dem Suchen nach Explosivstoffen beginnen, verschaffen sich die Experten von Halo Trust einen Überblick über die Lage: Wo ist es aus militärischer Sicht wahrscheinlich, dass IEDs vergraben wurden? Was wissen die Dorfbewohner darüber? Wo gab es bisher Unfälle durch Sprengkörper? Abhängig vom Gelände verwenden sie zum Suchen Metalldetektoren oder Bagger. "Oft ist zu viel Metallschrott im Boden, sodass der Detektor ständig anschlägt. Dann geht es mit dem Bagger schneller", sagt Mujali.

Das Feld mit den vertrockneten Büschen grenzt an die Dorfschule. Zweihundert Meter im Umkreis der Schule werden von Halo Trust abgesucht und mögliche Sprengkörper entfernt. "Sobald das Gebiet sauber ist, können die Kinder zurück zum Unterricht", so Mujali.

Etwa zehn Schritt entfernt vom Schaufelbagger beobachtet Marwan Sabah wie die Metallgabel die Erde durchwühlt. Der 35-Jährige trägt eine blaue Schutzweste und Helm und ist durch eine mannshohe Stahlplatte mit Guckloch aus Panzerglas geschützt. Als Teamleiter überwacht er die Arbeit des Baggers und greift ein, sobald ein Sprengkörper entdeckt wird.

Die Gefahr, die seine Arbeit mit sich bringe, sei kalkulierbar. "Ich bin durch zahlreiche Trainings gut vorbereitet und habe viel Erfahrung", sagt Sabah, der seit fünf Jahren bei Halo Trust arbeitet. Wichtig sei vor allem, die Gefahr auch nach Jahren der Praxis niemals zu unterschätzen und die Sicherheit der Mitarbeiter immer im Auge zu behalten: "Sollte der Bagger auf Explosivstoffe stoßen, ist der Fahrer mehrfach gesichert. Der lange Arm hält das Gefahrengut auf Distanz, der Bagger ist gepanzert und der Fahrer trägt eine Schutzweste."

Findet der Bagger eine IED, werde diese weggeschafft, anschließend entschärft und später dem Militär übergeben, das Zünder und Explosivstoff gezielt sprengt, erklärt Sabah. Um rasch voranzukommen und trotzdem nichts zu übersehen ist es wichtig, dass der Bagger 30 Zentimeter von der Erde abhebt. Sabah prüft das mit einem Zahlstock immer wieder nach. "Tiefer liegen die IEDs nicht, da sie dann nicht mehr durch Druck ausgelöst werden können."

"Greift diese Dinge niemals an!"

Am Rande der Ortschaft aus unverputzten Häusern stecken überall rote Gefahrentafeln, die vor Minen warnen und das Leben der Menschen bestimmen: Wohin sie gehen dürfen, welche Gebiete sie meiden müssen. Um das Bewusstsein für diese Gefahr zu schärfen, organisiert Halo Trust Risikoschulungen. Hinter dem Rohbau, in dem die Organisation ihr Büro eingerichtet hat, versammeln sich zehn Kinder auf einem sandigen Platz. Eine Mitarbeiterin in blauer Weste zeigt ihnen großformatige Fotos von IEDs, Mörsergranaten, Artilleriegeschossen und anderen gefährlichen Überresten des Krieges. Drei Anweisungen wiederholt sie gegenüber den Kindern immer wieder: "Greift diese Dinge niemals an! Nähert euch den Objekten auf gar keinen Fall! Informiert umgehend eure Eltern oder andere Erwachsene!"

Bisher kamen zwei Kinder durch nicht-explodierte Munition ums Leben, andere wurden verwundert.

Eines der Opfer ist der 22-jährige Muassim. Als 2014 die Kämpfe im nahen Falludscha losbrachen - die Stadt liegt keine zehn Kilometer von Albu Mansour entfernt, hinter dem schwarzen Qualm der Teerfabriken -, beschloss Moassims Familie, zu Verwandten nach Kirkuk zu fliehen. Erst zweieinhalb Jahre später konnte er in sein Dorf zurückkehren. Doch große Teile der Ortschaft waren bei Kämpfen zwischen dem IS und der irakischen Armee zerstört worden. Auch das Haus seiner Familie lag in Trümmern. Der damals 17-jährige Moassim half beim Bau eines neuen Hauses mit, als es geschah.

Sein 7-jähriger Stiefbruder hatte etwas metallenes, glänzendes zwischen den vertrockneten Büschen gefunden. Nicht wissend, um was es sich handelt, begann das Kind mit der Mörsergranate zu spielen. Sekunden später explodierte sie. "Ich stand auf der Treppe, als ich einen ohrenbetäubenden Knall hörte", sagt Moassim. Das Kind starb auf der Stelle, Moassim wurde im Unterleib verwundet, sein älterer Stiefbruder erlitt schwere Verletzungen an der Brust und im Gesicht. Anrainer brachten sie mit dem Auto ins Krankenhaus.

Die Angst vor dem Erlebten sitzt tief. "Ich habe das Gefühl, dass es jederzeit wieder passieren könnte", sagt er. Dass Halo Trust in seinem Dorf nach Explosivstoffen sucht und diese unschädlich macht, gibt ihm Hoffnung: "Ihre Arbeit macht unser Dorf sicherer."

Tödliches Erbe aus drei Kriegen

Am anderen Ende des Dorfes, gleich hinter dem verlassenen Fußballplatz, hängt eine Staubwolke in der Luft, wo ein Bagger mit Pflug langsam über ein Feld fährt. "Der Pflug wird dort eingesetzt, wo wir keine IEDs erwarten, aber auf Nummer sicher gehen wollen", sagt der technische Leiter Mujali. Durch die Suche mit dem Pflug kann rasch festgestellt werden, ob ein Areal tatsächlich sauber ist. Wird etwas gefunden, kommt der Bagger mit der Gabel zum Einsatz.

Auf den Feldern am Rande des Dorfes laufen wilde Hunde zwischen den trockenen Büschen umher. Schilder mit Totenschädeln warnen davor, das Brachland zu betreten. Vor zwei Jahren habe ein Hund in einem verlassenen Haus eine IED ausgelöst. Das könne gefährlich sein, wenn Menschen in der Nähe sind. "Manchmal laufen Hunde in ein Minenfeld, das wir gerade absuchen", sagt Mujali. "Dann müssen wir die Suche einstellen, bis sie vertrieben sind."

Die Arbeit in und um das Dorf soll bis Ende Dezember abgeschlossen sein. Doch Albu Mansour ist nur ein kleiner Teil jener Aufgabe, die Halo Trust und anderen Entminungsorganisationen noch bevorsteht. Mit den Überresten aus drei Kriegen (Irak-Iran Krieg, US-Invasion, Kampf gegen den IS) ist der Irak eines der am stärksten verminten Länder der Welt. Das verseuchte Gebiet zieht sich quer durch das Land, vom irakisch-iranischen Grenzgebiet über Falludscha und Tikrit bis Mossul und weiter bis zu den Grenzen Syriens. Mit dem explosiven Erbe wird das Land noch jahrelang zu kämpfen haben.