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Leben an der Grenze

Von WZ-Korrespondentin Daniela Prugger

Politik

Für die Bewohner der südlichsten Region Armeniens hat der Ausgang des Kriegs um Berg-Karabach weitreichende Folgen.


Argam Hovsepyan zählt bis dreizehn. So viele militärische Positionen kann er mit freiem Auge von seinem Feld im 170-Einwohner-Dorf Aravus sehen. Der 58-Jährige zeigt auf einen Hügel, einige hundert Meter entfernt: Eine aserbaidschanische Fahne weht neben den ameisengroßen Umrissen einiger Soldaten. Dahinter breitet sich ein Bergpanorama aus, wie es von Urlaubsbildern bekannt ist. Jeden Tag, sagt Hovsepyan, höre er, wie die Soldaten rufen: "Aravus ist Aserbaidschan."

Hovsepyan spricht fließend Aserbaidschanisch, er lebte selbst Jahrzehnte lang in der Hauptstadt Baku. "Das war so in der Sowjetunion. Es gab Armenier, die in Aserbaidschan lebten und Aserbaidschaner, die in Armenien lebten. Heute ist das für mich unvorstellbar." Mit dem Blick nach unten gerichtet marschiert er über den schlammig-rutschigen Boden, er fühlt sich ständig beobachtet. Bei seinem Rundgang trägt er deshalb jeden Morgen aufs Neue die Camouflage-Jacke aus seiner eigenen Zeit als Soldat. Die andere Seite soll wissen, dass er im Ernstfall kämpfen wird.

Die Wut ist groß

Bis vor einem Jahr grenzte Aravus an Berg-Karabach, eine umfehdete Region auf aserbaidschanischem Staatsgebiet. Doch seit dem Krieg, der im Dezember 2020 beigelegt wurde, sei alles anders, meint Hovsepyan. Armenien ging als Verlierer aus den Kämpfen hervor, und große Teile der von Armeniern bewohnten Enklave wurden an den Erzfeind Aserbaidschan abgetreten. "Bis zum Krieg gab es hier keine richtige Staatsgrenze", erklärt Hovsepyan. Bewohner wie er bewegten sich frei zwischen Berg-Karabach und Armenien.

Die Wut Hovsepyans auf die armenische Regierung ist groß. Er sagt, Armenien habe Berg-Karabach aufgegeben, und Aserbaidschan wird irgendwann auch bis Aravus vordringen. Schon allein deshalb könne er nicht verstehen, warum die armenische Armee Bewohnern wie ihm nach dem Krieg die Waffen wegnahm: "Wir müssen in der Lage sein uns zu verteidigen."

In der Region Sjunik, in der sich das Dorf Aravus befindet, ist die brenzlige geopolitische Lage Armeniens am deutlichsten zu spüren: Hier grenzt das christlich geprägte Land an den Iran im Süden, an Aserbaidschan im Osten und an die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan im Westen. Dahinter liegt die Türkei. Auf den hochgebirgigen Straßen fahren außer klapprigen Autos, die mit Gas betrieben werden, Militärtrucks aus Russland, das hier seit Kriegsende 2.000 Friedenssoldaten stationiert hat.

Hovsepyan ist dankbar für die Präsenz der Russen in dieser neuen de facto Grenzregion. "Wenn die Russen nicht wären, dann hätten die Aserbaidschaner versucht, noch weiter vorzudringen." Er sei nicht prorussisch, aber der Krieg vor gut einem Jahr habe ihm gezeigt, dass Armenien mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern kaum auf andere militärische Verbündete zählen könne.

Bilder der Toten

Hovsepyan geht über die unbefestigte Dorfstraße an windschiefen Zäunen vorbei, dahinter gackern die Hühner. Ansonsten herrscht Stille. Kaum ein Auto verirrt sich hierher, nach Aravus. Die Abgeschiedenheit bringt die Bewohner in der Nachkriegszeit in eine schwierige finanzielle Lage. "Wir wissen nicht, wie wir hier überleben sollen. Wir haben von unseren Feldern und dem Vieh überlebt. Die Felder haben wir an Aserbaidschan verloren, das Vieh mussten wir verkaufen. Uns geht das Geld aus", berichtet Hovsepyan.

Noch leben die meisten Bewohner hier, die Klassenzimmer sind trotzdem beinahe leer. In der örtlichen Schule werden die sieben Kinder des Dorfes unterrichtet, sie sind zwischen sechs und zehn Jahren alt. Die Buben sagen, sie wollen Polizisten und Soldaten werden, wenn sie groß sind. Die Mädchen Ärztinnen.

In der Schulkantine hantiert ein Dutzend Frauen mit frischem Gemüse und dem für die Region typischen Fladenbrot Lavash. Seit dem Krieg sind viele der Frauen zu den Alleinverdienerinnen ihrer Familien geworden, weil ihre Berufe in den Schulen oder in der Verwaltung nicht von der Privatwirtschaft abhängig sind. Zwischen 15.000 und 30.000 Armenische Dram verdienen die Frauen im Monat, umgerechnet 30 bis 60 Euro. Einige von ihnen haben bereits ihren Ehemann oder Sohn in den Kämpfen verloren.

Im Eingangsbereich der Schule hängen die Bilder der Toten. Die Schule, sagt die 41-jährige Neli, Mutter von zwei Töchtern, ist für Frauen wie sie aber auch in anderer Hinsicht wichtig. Sie sei der einzige Ort, an dem sich die Frauen sicher fühlen können. Seitdem die aserbaidschanischen Positionen so nahe an das Dorf gerückt sind, steigt ihre Angst. Spazierengehen oder mit den Kindern draußen spielen ist für die meisten keine Option. Hinz kommen Diskriminierung und häusliche Gewalt, die schon vor dem Krieg ein Problem in dieser konservativen Gegend waren. "In der Schule können wir uns versammeln und austauschen", sagt Neli. Während sich viele der Männer in den Dörfern organisieren und in Camouflage herumlaufen, wird der sichere Raum für Frauen kleiner.

Von Soldaten umzingelt

Im nahegelegenen Nachbardorf Kornidzor zeigt sich ein ähnliches Bild. Auch hier fühlen sich die Bewohner von den aserbaidschanischen Soldaten eingekreist, umzingelt. Dass im Dorf mittlerweile auch eine Truppe armenischer Streitkräfte stationiert ist, gibt manchen ein Gefühl von Sicherheit, doch die Wahrnehmungen von Männern und Frauen unterscheiden sich.

Lusine Karamyan, die 32-jährige Sekretärin im Gemeindehaus, in dem die Soldaten untergebracht sind, traut sich weder nachts auf die Straße noch während der Arbeit auf die Toilette. "Seitdem die Soldaten hier untergebracht wurden, gibt es keine Frauentoiletten mehr." Zwar herrscht seit Dezember 2020 ein Waffenstillstand zwischen den beiden Nachbarländern, doch die Menschen, die in den Dörfern an der Grenze leben, haben den Konflikt wieder und wieder aufkeimen sehen. In Kornidzor stehen noch immer die alten Panzer aus den 1990er Jahren auf der Straße. Seitdem der erste Krieg um Berg-Karabach 1994 beendet wurde, klettern die Sträucher und Büsche an den Fahrzeugen empor.

In der Außenmauer des Schulgebäudes sind noch immer die Einschusslöcher aus den frühen Neunzigerjahren zu sehen. Neben der Schule wird eine Mauer aus Steinen aufgebaut, die die Schüler vor eventuellen Angriffen schützen soll. "Im ersten Krieg um Berg-Karabach wurde von allen Seiten geschossen, und die Häuser wurden zerstört", erinnert sich Susanna Minasyan, Schuldirektorin in Kornidzor. "Lange haben wir in Frieden gelebt, es gab eine Ordnung und eine gepflegte Nachbarschaft. Seit dem letzten Jahr sind die Soldaten ganz nahe an das Dorf herangerückt. Deshalb haben wir Angst. Wir befürchten, dass wir zur Zielscheibe werden, oder dass sie uns irgendwann einnehmen."

Erneute Kämpfe

In den vergangenen Monaten drangen aserbaidschanische Truppen wiederholt vorübergehend in das Hoheitsgebiet Armeniens ein. Seit Jahren stellen manche Vertreter des Landes, einschließlich Präsident Ilham Alijew, territoriale Ansprüche auf Teile des Landes. Im November des Vorjahres kann es erneut zu heftigen Gefechten an der Grenze zur armenischen Region Sjunik und Aserbaidschan. Laut dem armenischen Parlament starben dabei 15 armenische Soldaten. Viele Beobachter gehen davon aus, dass die von Aserbaidschan initiierten Ausschreitungen mit Präsident Alijews Forderung nach einer Transportverbindung zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan zu tun hatten - einer Straße, die quer durch Südarmenien und irgendwann bis in die Türkei führen soll.

Zuletzt haben sich die Konfliktparteien auf eine alternative Route geeinigt: In Brüssel stimmten der armenische Premierminister Nikol Paschinjan und Präsident Alijew einer Wiederherstellung der alten sowjetischen Eisenbahnstrecke zu, die einst von Baku entlang der Grenze zum Iran bis nach Jerewan führte. Von einer Normalisierung der Beziehungen würden nicht nur beide Länder wirtschaftlich profitieren, sondern auch die Bewohner in der Region Sjunik.