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"Putin genießt Wirbel in vollen Zügen"

Von Martyna Czarnowska und Michael Schmölzer

Politik

Der Kreml lässt den Westen in der Ukraine-Krise über seine Intentionen im Unklaren.


Im Konflikt um die Ukraine ist unklar, ob Russland auf Deeskalation oder eine Verschärfung der Krise setzt. So kündigt Moskau Teilabzüge seiner Truppen an, ohne dass der Westen bis dato dafür Belege findet. Vielmehr wird derzeit ein russisches Manöver im benachbarten Belarus abgehalten - was die Befürchtungen nährt, dass Einheiten vom Norden kommend leicht nach Kiew vorstoßen könnten.

In Washington geht man davon aus, dass Kremlchef Wladimir Putin aktuell den Boden für einen Krieg aufbereiten könnte. US-Präsident Joe Biden, der sich am heutigen Freitag mit den Staats- bzw. Regierungschefs von Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Rumänien, Großbritannien sowie Spitzenvertretern der Europäischen Union und der Nato beraten will,  meinte am Donnerstag, es gebe Informationen, dass Russland eine Operation unter falscher Flagge vorbereite. Das würde einen fingierten ukrainischen Angriff auf Russland bedeuten, was Moskau den Vorwand zum Eingreifen liefern könnte. Biden befürchtet eine Invasion in den kommenden Tagen.

Diese Finte ist nicht neu, sie wurde in der Geschichte immer wieder angewandt. Das bekannteste Beispiel stammt aus dem Jahr 1939, als die Nazis einen polnischen Angriff auf Deutschland inszenierten, um legitimerweise "zurückschießen" zu können.

Atomwaffen in Weißrussland

Am Donnerstag kündigte dann Weißrusslands autoritärer Staatschef Alexander Lukaschenko an, dass er im Fall einer westlichen Bedrohung zur Stationierung von Atomwaffen bereit sei. Und nicht nur das: Man sei auch bereit, "Super-Nuklearwaffen" aufzunehmen, um das eigene Territorium zu verteidigen. In Minsk wird aber Wert darauf gelegt, dass nach Beendigung der Manöver "kein einziger russischer Soldat" im Land bleibe. Demnach fühlt sich neben Russland auch Belarus von der Nato bedroht.

Das westliche Verteidigungsbündnis wiederum verstärkt seine Kräfte im Osten. So sind am Donnerstag erste US-Soldaten zu einer geplanten Nato-Großübung in die Slowakei gekommen. Es geht um das Manöver "Saber Strike (Säbelschnitt) 2022", an dem rund 3.000 Soldaten beteiligt sind und wo Militärfahrzeuge sowie schweres Gerät zum Einsatz kommen. Die Slowakei, die an die Ukraine grenzt, beteuert, dass das Manöver schon lange geplant gewesen sei und nicht mit der aktuellen Krise im Nachbarland zusammenhänge.

Die fragile Gesamtlage wird noch dadurch unterstrichen, dass es in der Ostukraine, die von pro-russischen Separatisten gehalten wird, zu Gefechten gekommen ist. Laut OSZE habe es Artillerie-Beschuss gegeben. Das ukrainische Militär berichtete, aus dem Gebiet der prorussischen Separatisten sei in der Region von Luhansk auf eine Ortschaft geschossen worden. Das Feuer sei nicht erwidert worden, sagen die ukrainischen Streitkräfte.

Die von Russland unterstützten Rebellen hingegen behaupten, dass ukrainische Regierungstruppen ihr Territorium angegriffen hätten. Die Streitkräfte hätten bei vier Attacken in den letzten 24 Stunden Mörser, Granatwerfer und ein Maschinengewehr eingesetzt, so Vertreter der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk.

Derartige Scharmützel sind im Osten der Ukraine schon länger an der Tagesordnung. Jetzt allerdings gewinnen die Vorfälle an zusätzlicher Brisanz. In der Nato geht die Befürchtung um, dass Moskau fingierte Angriffe dazu nutzen könnte, in die Ostukraine einzumarschieren.

Russland ist es jedenfalls gelungen, den Westen in einen Zustand der permanenten Anspannung zu versetzen. Die estnische Premierministerin Kaja Kallas geht sogar so weit, dass sie behauptet, Putin genieße den weltweiten Wirbel in vollen Zügen, den er durch den Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze verursacht hat. Es sei für den russischen Machthaber ein sehr gutes Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen, nachdem er in der Vergangenheit etwas übersehen worden wäre. "Aber jetzt bekommt er Besuch von verschiedenen westlichen Spitzenpolitikern, und jeder spekuliert permanent, was er denken oder als Nächstes tun könnte", meinte Kallas. Gleichzeitig sei Putin auf einen Kriegserfolg aus, um innenpolitisch seine Beliebtheit zu erhöhen.

Nehammer: "Fake"

Zuletzt hat Moskau jedenfalls mitgeteilt, dass nach Manövern mit dem Rückzug von Truppen begonnen worden sei. Die Nato schenkt dem keinen Glauben. Dass man Truppenbewegungen sehe, beweise nicht, dass die russischen Ankündigungen wirklich stimmten, heißt es. Hier zieht man einen rein vorgeblichen Rückzug in Betracht, die Soldaten könnten ganz schnell wieder an die Grenze zur Ukraine gebracht werden. Die USA reden davon, dass Russland ganz im Gegenteil zusätzliche Einheiten an die Grenze gebracht hätte.

Diese Einschätzung teilt auch Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer. Der Abzug russischer Truppen von der Halbinsel Krim sei ein "Fake-Abzug" gewesen, so Nehammer vor einem EU-Treffen in Brüssel. Man gehe "nach wie vor davon aus, dass auf Knopfdruck eine Invasion in die Ukraine möglich ist". Die jüngsten Gefechte in der Ostukraine könnten auch der Beginn einer "Erzählung" seitens Russlands sein, dass aufgrund der Eskalation vor Ort ein Eingreifen von russischer Seite notwendig sei, befand Nehammer, der es beim österreichischen Bundesheer selbst bis zum Offizier gebracht hat.

Bei der Zusammenkunft der EU-Staats- und Regierungschefs standen auch Sanktionen gegen Russland zur Debatte. Zwar betonte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass es noch immer Hoffnung auf Frieden gebe und die Diplomatie ihr letztes Wort noch nicht gesprochen habe. Doch bei aller Hoffnung "auf das Beste", seien die Europäer "auf das Schlimmste vorbereitet". Dass die Vorbereitung ebenfalls Strafmaßnahmen gegen den Kreml umfasst, hat die EU immer wieder unterstrichen. Auch ihr Außenbeauftragter, Josep Borrell, wiederholte das am Donnerstag. Es gebe bereits ein "Paket an Sanktionen", das vorgelegt werde, sobald nötig, erklärte Borrell.

Allerdings müssten die EU-Länder dem zunächst einmal zustimmen - und da gehen ihre Auffassungen auseinander. Während osteuropäische Staaten mit Polen an der Spitze für ein hartes Vorgehen gegen Moskau plädieren, geben sich andere zögerlicher. Dazu gehören Deutschland und Österreich, die nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen in und mit Russland verfolgen. Dennoch wiesen Regierungspolitiker in Wien zuletzt darauf hin, dass Österreich auch harte Sanktionen mittragen würde, sollte die EU diese beschließen.

Die Osteuropäer drängen beispielsweise darauf, die Ostseepipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb gehen zu lassen. Möglich wäre ebenfalls ein Ausschluss Russlands aus dem internationalen Banken-Zahlungssystem Swift. Auch die USA sprechen von Sanktionen.

Davon ließ sich Russland bisher kaum beeindrucken. Es stellt eigene Forderungen: nach Sicherheitsgarantien. Die Liste, die den USA und der Nato übergeben wurde, beinhaltet unter anderem den Wunsch nach einem Verzicht auf die Aufnahme der Ukraine in das westliche Militärbündnis. Außerdem solle sich die Nato auf ihre Positionen von 1997 zurückziehen. Der Westen wies in seinem Antwortschreiben zentrale Anliegen zurück und berief sich darauf, dass jedes Land das Recht auf eine freie Bündniswahl habe.

Russland will US-Abzug

Das wiederum löste in Moskau Enttäuschung aus. Mittlerweile hat Russland seine Antwort auf die von den USA unterbreiteten Vorschläge übermittelt. Laut US-Außenministerium habe der Botschafter in Russland, John Sullivan, das Schreiben erhalten.

In dem Dokument hält der Kreml nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters fest, dass sich die Ukraine an die Minsker Vereinbarungen halten müsse und keine Waffen mehr an das Land geschickt werden. Darüber hinaus besteht Russland auf dem Abzug aller US-Truppen aus den Ländern Mittel- und Osteuropas. Und es erwarte sich weitere Vorschläge, betreffend der von Moskau geforderten Garantie, dass es keine weitere Osterweiterung der Nato geben werde. Die USA hatten das zuvor eben ausgeschlossen, aber betont, dass ein Nato-Beitritt der Ukraine in den kommenden Jahren nicht anstehe.

EU-Ratspräsident Charles Michel hat zuletzt betont, dass die EU-Staats- und Regierungschefs erneut ihre "Solidarität mit der Ukraine" ausgedrückt hätten und weiter bereit seien "alles für Frieden" zu unternehmen. Die Beteuerung wird in Kiew wohl mit einem Achselzucken quittiert.

Mehr zum Russland-Ukraine-Konflikt in unserem Dossier.