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Atomwaffen als Informationsbomben

Von Alexander Dworzak

Politik

Russland weiß, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann. Putin will die Bürger in der EU verunsichern.


Seitdem Russlands Präsident Wladimir Putin befohlen hat, die Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen, herrscht große Aufregung im Westen. Die Angst geht um, dass der Krieg in der Ukraine zu einer Auseinandersetzung gerät, bei der Atomsprengsätze gezündet werden. Auszuschließen ist dieser Tage nichts, und die Vergangenheit hat gezeigt, dass Putins Drohungen nicht verharmlost werden dürfen.

Jedoch gibt es triftige Gründe, dass Russland - zumindest nach derzeitiger Einschätzung - nicht zum äußersten Mittel greift. Den wichtigsten liefert ausgerechnet Putins Außenminister Sergej Lawrow: "Wir glauben weiter, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf", sagte er am Dienstag. Zwar verfügt Russland über die meisten Atomsprengsätze aller Staaten, von 6.255 geht das renommierte schwedische Friedensforschungsinstitut Sipri aus. Die USA halten bei 5.550, weltweit haben die neun Atommächte - unter ihnen China, Indien und Pakistan - rund 13.000 solcher Waffen in ihrem Besitz. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace erinnerte die russische Führung daher daran, dass auch Großbritannien, die USA und Frankreich über atomare Abschreckungskapazitäten verfügen, "die uns jahrzehntelang Sicherheit" gegeben haben.

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USA und Russland verbal im Gleichklang

So unterschiedlich Russland und die Vereinigten Staaten den Krieg in der Ukraine sehen, bei Atomwaffen sind die Aussagen fast wortgleich. Im Weißen Haus erklärt auch die Sprecherin von US-Präsident Joe Biden, ein Atomkrieg sei nicht zu gewinnen. Der Einsatz von Atomwaffen hätte verheerende Folgen, darüber seien sich Washington und Moskau, trotz aller Meinungsverschiedenheiten, in den vergangenen Monaten und Jahren einig gewesen.

Dass Putin am vergangenen Sonntag zur maximalen Drohkulisse gegriffen hat, hängt wohl mit dem aus russischer Sicht dürftigen Kriegsverlauf der ersten Tage zusammen. Laut Großbritanniens Verteidigungsminister Wallace handle Putin aus einer Rhetorik der Ablenkung. "Er will uns alle daran erinnern, dass er im Besitz atomarer Abschreckung ist."

Faktisch bedeutet die von Russland ausgerufene erhöhte Alarmbereitschaft der Streitkräfte lediglich, dass das Gefahrenlevel von der ersten auf die zweite von vier Stufen erhöht wurde, betont der Politologe Carlo Masala von der Universität der deutschen Bundeswehr. Eins heißt, dass die Waffen in den Silos gelagert sind. Beim jetzigen zweiten Zustand ist noch nichts mit den Sprengköpfen geschehen. In Stufe drei werden die Waffen scharf gemacht. Ist Level vier ausgegeben, erfolgt der Abschuss.

Die westlichen Staaten versuchen daher, Russlands Atomszenario abperlen zu lassen. Das Weiße Haus richtet aus, es sähe derzeit keinerlei Grund, die eigene Gefahrenskala zu adaptieren. Aus dem Pentagon, dem Verteidigungsministerium, wird verlautbart: "Ich glaube nicht, dass wir in Folge von Putins Anordnung etwas Spezifisches gesehen haben." Jedoch wird Putins Aussage in Washington als "unnötig und sehr eskalierend" kritisiert.

Denn einen Zweck hat die Drohung des russischen Machthabers erfüllt: Die Menschen im Westen wurden aufgeschreckt. Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer spricht in diesem Zusammenhang gegenüber der Austria Presse Agentur von "Informationsbomben". Mit weiteren ist im Kriegsverlauf zu rechnen, zumal in den klassischen wie auch in den sozialen Medien die Sympathien klar aufseiten der Ukraine sind.

Das zeigt auch eine aktuelle Meinungsumfrage aus Deutschland. Erst wollte die Ampelkoalition nur 5.000 Militärhelme zur Verfügung stellen. Mit der russischen Eskalation schwenkte die Regierung in Berlin auf scharfe Wirtschaftssanktionen um, rüstet die marode eigene Armee mit Investitionen in Höhe von 100 Milliarden Euro auf und schickt 1.000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen in die Ukraine. Mehr als drei Viertel der Deutschen begrüßen sowohl die Extra-Mittel für die Bundeswehr als auch die Waffenlieferungen.

Russische Mär von ukrainischen Atomwaffen

Aber auch fast 70 Prozent befürchten, dass die Nato - deren Mitglied die Bundesrepublik ist - in den Krieg hineingezogen wird, weil Russland einen Staat des Verteidigungsbündnisses angreifen könnte. Eine derartige Attacke auf Befehl Putins hätte dramatische Folgen, denn dann würde die Nato den Bündnisfall ausrufen: Ein Angriff auf ein Mitglied gilt als Angriff auf alle ihrer 30 Staaten - darunter eben die Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien.

Russland seinerseits unterstellt der Ukraine das Streben nach Atomwaffen. Außenminister Lawrow behauptete am Dienstag, im Nachbarland befände sich Nukleartechnologie aus der Sowjetzeit, und es gebe Mittel, derart bestückte Waffen abzuschießen. Richtig ist vielmehr, dass zur Zeit der UdSSR Atomwaffen in der Ukraine stationiert waren, dort aber kein eigenes Atomwaffenprogramm aufgebaut wurde. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und Erlangung der Eigenstaatlichkeit trat die Ukraine 1994 dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen bei und übergab 2001 das letzte entsprechende Material an Russland. Vor kurzem erklärte auch die internationale Atomenergiebehörde, sie sehe keinerlei Belege für ein mögliches ukrainisches Atomwaffenprogramm.

Auch wenn die russischen Behauptungen Fiktion sind: Wenn sie geglaubt werden und die Bürger im Westen in Angst versetzen, hat Chefdiplomat Lawrow bereits sein Ziel erreicht.