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US-Gericht will Recht auf Abtreibung beschneiden

Von Martyna Czarnowska

Politik
Das ist der erste Spruch seit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, die zu vielen Protesten geführt hat.
© reuters / Moira Warburton

Laut einem ersten Entwurf soll das Urteil zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gekippt werden.


Unerhört falsch und zutiefst schädlich": Was Richter Samuel Alito mit diesen Worten kommentiert, ist eines der bedeutendsten Urteile des Obersten Gerichts der USA - und seit einem knappen halben Jahrhundert eines der umstrittensten. "Roe gegen Wade" nannte sich der Fall; hinter dem ersten Namen, einem Pseudonym, stand eine Frau, die eine Möglichkeit zur Abtreibung suchte. Diese war damals, 1973, in etlichen US-Bundesstaaten strikten Regelungen unterworfen. Doch waren parallel dazu die gesellschaftlichen Umbrüche tief: Die Bürgerrechtsbewegung hatte ihren historischen Höhepunkt bereits hinter sich, unterschiedliche soziale Gruppen verlangten mehr politische Aufmerksamkeit, Frauen kämpften um ihre Gleichstellung. In Washington befand der Supreme Court, dass Frauen das verfassungsmäßige Recht zusteht, über einen Abbruch oder die Fortführung ihrer Schwangerschaft selbst zu entscheiden.

Der Richterspruch wurde nach einer weiteren Verhandlung 1992 teils bekräftigt. Abtreibungen sind demnach bis zur Lebensfähigkeit des Fötus, ungefähr bis zur 24. Schwangerschaftswoche, landesweit legal.

"Kein Wort in Verfassung"

Dieses Urteil möchte das Höchstgericht nun kippen. Das geht aus einem ersten Entwurf hervor, an den das Nachrichtenportal "Politico" gelangte. Die Echtheit des Papiers wurde zunächst von keiner anderen Seite bestätigt, ebenso war unklar, warum der Text durchgesickert war. Ungewöhnlich war dies allemal. Denn während es in politischen Kreisen durchaus üblich ist, Dokumente als Versuchsballons Medien zukommen zu lassen, um etwa die öffentliche Wirkung zu testen, wurden die Entwürfe des Obersten Gerichts zumindest in den vergangenen 150 Jahren streng vertraulich behandelt.

Die Stellungnahme der Richter, die deren Mehrheitsmeinung entspricht, verfasste eben Alito, der zu den sechs konservativen Vertretern in dem neunköpfigen Gremium gehört. Und mit harscher Kritik am "Roe"-Urteil hält er sich keineswegs zurück. Auf fast 70 Seiten wird gegen die "Schwäche" und "Anmaßung" des damaligen Richterspruchs argumentiert. Ein Anhang von 30 Seiten dokumentiert die Gesetzesregelungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die für Abtreibungen Gefängnis- und Geldstrafen vorsahen.

Auch dies ist für Alito ein Beleg dafür, dass Schwangerschaftsabbruch und Verfassung nicht im gleichen Atemzug zu nennen seien: Wäre das eine mit dem anderen verbunden, könnte es ja nicht strafbar sein. Außerdem habe es bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein kein amerikanisches Gesetz gegeben, aus dem sich ein verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung ableiten ließe. "Null. Kein einziges", schreibt Alito: "Keine Verfassungsregelung hat solch ein Recht anerkannt."

Zwei Monate Zeit fürs Urteil

In dem Entwurf wird Abtreibung als "tief gehendes moralisches Thema" bezeichnet. Die Verfassung verbiete es den Bürgern der einzelnen Bundesstaaten nicht, Schwangerschaftsabbrüche zu regeln oder gar zu untersagen. Diese regionale Zuständigkeit habe das "Roe"-Urteil untergraben. Daher solle die Entscheidung rückgängig gemacht werden.

Dass dies tatsächlich geschehen wird, ist damit aber nicht gesagt. Der Entwurf kann nämlich noch abgeändert werden; der Supreme Court hat noch ungefähr zwei Monate Zeit, seine Entscheidung zu fällen und bekanntzugeben. Doch schon jetzt frohlocken Abtreibungsgegner, während Frauenrechtsorganisationen vor einer Verschlechterung der Lage von Schwangeren warnen.

Vertreter beider Gruppen versammelten sich in der Nacht auf Dienstag vor dem Gerichtsgebäude in Washington. "Tut etwas, Demokraten", forderten Befürworterinnen eines bundesweiten Rechts auf Abtreibung. Präsident Joe Biden erklärte bereits, dass die Wahlfreiheit einer Frau fundamental sei.

Sie wäre nicht überall verloren, sollte die landesweite Regelung gekippt werden. Doch könnte es zu Verschärfungen der Gesetze in etlichen US-Staaten kommen, die dann die Vorschriften festlegen. Ein entsprechender Vorstoß in Mississippi war denn auch der Anlass für die aktuelle Verhandlung vor dem Obersten Gericht. Striktere Regeln gibt es beispielsweise bereits in Florida, wo Schwangerschaftsabbrüche nur noch bis zur 15. Woche erlaubt sind. Und in Texas gilt das "Herzschlag-Gesetz", das Abtreibungen verbietet, sobald der Herzschlag des Fötus feststellbar ist. Das kann schon in der sechsten Woche sein.

Restriktionen in Vorbereitung

Laut der Zeitung "New York Times", die sich auf unterschiedliche Institute beruft, könnte Abtreibung in beinahe jedem zweiten der 50 Bundesstaaten verboten oder Einschränkungen unterworfen werden. Darunter würden unter anderem Arizona, Georgia, Kentucky, Louisiana, Michigan, Ohio, Pennsylvania, West Virginia fallen. Dreizehn Staaten hätten schon vorbereitete Gesetze zur Illegalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, die beschlossen werden sollen, sobald der Supreme Court mit seinem Urteil das ermöglicht. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Staaten, die Abtreibungen weiterhin erlauben werden - und sogar schon Vorbereitungen treffen, um Frauen aus den Regionen zu unterstützen, in denen die Restriktionen härter werden.

Sollte der "Roe"-Spruch gekippt werden, würden die USA jedenfalls zu einer kleinen Gruppe von Staaten gehören, die in den vergangenen Jahrzehnten die Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen verschärft haben - wie Polen, El Salvador und Nicaragua. Im Gegensatz dazu wurden in dutzenden Ländern die Abtreibungsgesetze liberalisiert.