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Indiens Schaukelpolitik für den eigenen Vorteil

Von Klaus Huhold

Politik

Indien will weder mit Russland brechen noch den Westen vergraulen und mit beiden im Geschäft beliben.


Indien packt die Gelegenheit am Schopf: Nachdem für Russland der westliche Ölmarkt immer mehr wegfällt, stillt nun das das asiatische 1,4-Milliarden-Einwohner-Land seinen Energiehunger zusehends mit russischem Öl. Während westliche Händler, auch angesichts des bevorstehenden EU-Öl-Embargos, schon länger die Finger vom russischen Öl lassen, ordert Indien nun erhöhte Mengen, die es von Russland unter den derzeitigen Bedingungen zu Rabattpreisen erhält. Bis zu 40 Dollar je Barrel beträgt der Nachlass, bei den derzeitigen Preisen von 100 Dollar pro Fass bleibt damit auch für den russischen Staatshaushalt genügend übrig.

Die USA und europäische Staaten sind über diese Entwicklung wenig erfreut. "Ich stelle die nationalen Interessen und die Energiesicherheit meines Landes an erste Stelle", betonte jedoch die indische Finanzministerin Nirmala Sitharaman "Wieso sollte ich kein Öl kaufen?" Ähnlich äußerte sich Außenminister Subrahmanyam Jaishankar: "Wir entscheiden, was unserem Interesse am besten dient", sagte er im indischen Parlament. Der Riesenstaat mit seiner wachsenden Wirtschaft und seiner wachsenden Bevölkerung braucht immer mehr Energie und will nun mithilfe der russischen Importe die weltweit gestiegenen Energiepreise zumindest ein wenig abfedern.

Ganz allgemein will es sich Indien nicht mit Russland verscherzen. Die indische Regierung hat deshalb zwar bei der UNO die Tötungen von Zivilisten in Butscha verurteilt, sich sonst aber bei sämtlichen Resolutionen, die sich gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine richteten, enthalten.

Militärisch abhängig von Moskau

Das hat auch militärisch-strategische Gründe. Russland ist der größte Ausrüster des indischen Heeres, laut jüngsten Untersuchungen erhält Indien mehr als die Hälfte seiner Waffen aus russischen Fabriken. Das bedeutet, es braucht auch entsprechende Ersatzteile und Fachwissen.

Die Aufrechterhaltung einer schlagkräftigen Armee ist für Indien aus zwei Gründen bedeutsam: Erstens befindet sich das Land im Dauerkonflikt mit Nachbar Pakistan, mit dem es schon Kriege wegen der umstrittenen Region Kaschmir geführt hat. Zweitens schaukelt sich Indiens Grenzstreit mit China im Himalaja-Gebirge immer wieder hoch und sorgte erst vor zwei Jahren für Gefechte mit mehreren Toten.

Auf diesen asiatischen Konflikten liegt auch Neu-Delhis Hauptaugenmerk - der Krieg in der Ukraine ist viel weiter weg als für die Europäer. Entsprechend justiert Indien auch seine Außenpolitik: Es achtet penibel darauf, gegenüber China, mit dem die Beziehungen angespannt sind, nicht zu sehr ins Hintertreffen zu geraten. Deshalb fürchtet Indien einen russisch-chinesischen Block und will Russland nicht vergraulen.

Gleichzeitig ist es aber nicht so, dass Neu-Delhi, wie es etwa bei China der Fall ist, eine antiwestliche Haltung äußert und den Ukraine-Krieg zum Anlass nimmt, um USA und Nato für ihre Politik rhetorisch an den Pranger zu stellen. Vielmehr möchte es - und dabei beruft sich Indien immer wieder auf seine Tradition als blockfreier Staat - auch mit dem Westen weiterhin gute Beziehungen pflegen.

Premier Modi tourt durch Europa

Auch wenn man im Westen vage darauf spekuliert hatte, dass sich Indien als größte Demokratie der Welt zumindest ein wenig vom autokratischen Kriegsherren Wladimir Putin distanziert - verscherzen will man es sich wegen des Ukraine-Kriegs mit Indien nicht. Zu wichtig ist dafür das Land - für die Vereinigten Staaten besonders als asiatisches Gegengewicht zu China, für die Europäer als wachsender Absatzmarkt und entscheidender Partner bei der Klimapolitik.

So reiste auch Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg erst Ende März nach Indien. Diese Woche wiederum machte Indiens hindunationalistischer Premier Narendra Modi eine Tour durch Europa. In Berlin empfing ihn der deutsche Kanzler Olaf Scholz, dabei wurden 14 Absichtserklärungen unterzeichnet und etwa eine engere Kooperation bei der Zukunftstechnologie Wasserstoff vereinbart. In Frankreich traf Modi mit Präsident Emmanuel Macron zusammen. Frankreich ist bemüht, Indien mehr Rüstungsgüter zu verkaufen, was auch dessen Abhängigkeit von russischem Militärmaterial verringern würde.

So versuchen westliche Regierungschefs, Indien näher an sich zu binden und in größerer Distanz zu Moskau zu bringen. Für Indien scheint indes, zumindest bisher, die Rechnung aufzugehen: Es hält sich mit seiner Schaukelpolitik nach möglichst vielen Seiten möglichst viele Optionen offen - und gewinnt dadurch viele Vorteile.