Hoher UN-Beamter: "Armen Ländern droht Schock"
Ukraine-Krieg hat Weltwirtschaft ins Wanken gebracht: Entwicklungsländer steuern auf Zusammenbruch zu.
Wie der Rest der Weltgemeinschaft rechneten die Verneinten Nationen nicht mit einem derartigen Überfall Russlands auf die Ukraine. Das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) musste sofort reagieren, Mitarbeiter vom umkämpften Osten in den Westen verlegen und seine Programme umstellen. Doch die Folgen des Krieges in der Ukraine, die zuvor einer der wichtigsten Weizenexporteure war, zeigen sich auch anderswo, sagt UNDP-ChefAchim Steiner, einer der ranghöchsten UN-Beamten. Er warnt davor, dass viele Entwicklungsländer auf ihren Zusammenbruch zusteuern.
"Wiener Zeitung": Das UN-Entwicklungsprogramm ist seit Jahrzehnten in der Ukraine aktiv, nun liegt das Land in Trümmern. Inwieweit existiert die ukrainische Wirtschaft überhaupt noch?
Achim Steiner: Als Volkswirtschaft durchläuft die Ukraine ein akutes Trauma. Schätzungen zufolge betragen allein bei der Infrastruktur die bisherigen Zerstörungen 60 bis 100 Milliarden Dollar. Das normale Wirtschaften ist so für die Regierung, die vor verschiedenen Herausforderungen steht, sehr schwer: Wie schafft sie es, ihre Beamten und den ganzen Apparat zu bezahlen? Wie stellt sie bis hin zur Gemeindeebene Grundversorgungen wie Strom und Wasser weiter zur Verfügung? Die internationale Gemeinschaft und dabei eben auch die Vereinten Nationen bemühen sich daher, den ukrainischen Staat zu unterstützen, seine Funktionsfähigkeit zu behalten.
Wie spielt sich das ab?
Auf verschiedenen Ebenen. So ist die Beschaffungswirtschaft und Logistik von enormer Bedeutung. Man muss nun viel mehr von außen in das Land hineinbringen. Das fing damit an, dass man in den ersten Tagen in polnischen Supermärkten Notversorgung einkaufen musste. UNDP unterstützt die Regierung zudem mit personellen Kapazitäten, etwa beim Wiederaufbau zerstörter Gebiete, in die Flüchtlinge nun zurückkehren. Wir handeln dabei auch nach dem Wunsch der Regierung, den Wiederaufbau der Ukraine schon mit anzudenken. Das mag manchem verfrüht erschienen, aber die Perspektive, dass es ihr Land weiter geben wird und es wieder aufgebaut wird, ist in der derzeitigen Situation für die Psyche vieler Ukrainer von großer Bedeutung.
Nun betrifft dieser Konflikt nicht nur die Ukraine, sondern mittlerweile die ganze Welt. Welche Auswirkungen hat er besonders auf ärmere Länder?
Ich glaube, in den ersten Wochen des Krieges befand sich Europa in einem Trauma, weil sich niemand vorstellen konnte, dass dieser Kontinent am Anfang des 21. Jahrhunderts einen derartigen Krieg erlebt. Man war ganz auf diesen Konflikt und die politische Reaktion darauf konzentriert. Dass von den Sanktionen und der Unterbrechung von Lieferketten die gesamte Weltwirtschaft mitbetroffen sein wird, war offenbar vielen nicht klar. Eine von UN-Generalsekretär Antonio Guterres einberufene Krisengruppe hat sich damit befasst, in welchen Bereichen die Auswirkungen am stärksten spürbar sein werden: Das sind die Nahrungsmittelversorgung, die Energiepreise und der Finanzsektor. Die meisten Entwicklungsländer stehen schon mit dem Rücken zur Wand, weil ihre Haushalte durch die Covid-Pandemie verausgabt sind. Jetzt kommt eine Situation auf sie zu, in der Getreidepreise um 40 bis 60 Prozent steigen, die Energiepreise in die Höhe schnellen und sich die Schuldenlast und die Zinstilgung wohl verdoppeln werden. Wir schätzen, dass 107 Länder von mindestens einem dieser drei Schocks betroffen sein werden und dass bei 69 Ländern in Afrika, Asien und Ozeanien sowie Süd- und Mittelamerika alle drei auf einmal wirken. Das hat sofortige enorme Konsequenzen.
Das heißt, Tuk-Tuk-Fahrer, wie es in Afrika und Asien Millionen gibt, verlieren durch die Energiepreise viel Einkommen und müssen gleichzeitig mehr für das Brot zahlen. . .
Das macht uns große Sorgen. Wir haben das schon beim Arabischen Frühling erlebt: Wenn Menschen sich ihre Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten können, das Gefühl haben, keine ausreichenden Verdienstmöglichkeiten zu haben, dann bewegt sich das Volk auf die Straße. Wir sehen das gerade in Sri Lanka, wo es nicht genügend Benzin gibt, weil nicht mehr die Fremdwährungsbestände vorhanden sind, dieses einzukaufen - das hat eine Vorgeschichte im Land, aber es gibt dabei auch immer einen gewissen Zündpunkt. Zahlreiche Entwicklungsländer leiden unter der Schuldenlast so sehr, dass sie Gefahr laufen, zahlungsunfähig zu werden. Das zeigt, dass die reicheren Staaten sich nicht nur mit sich selbst beschäftigen können, sondern auch eine Mitverantwortung dafür übernehmen müssen, was auf den Weltmärkten geschieht. Es geht hier nicht darum, Almosen zu verteilen, sondern Krisen zu vermeiden, die zu den nächsten Kriegen führen können.
Was kann nun auf internationaler Ebene unternommen werden?
Wir müssen zunächst einmal darauf achten, dass Länder nicht aus Sorge um ihre eigenen Reserven einen Exportstopp für Getreide verhängen. Denn umso mehr Länder das machen, desto stärker wird der Run auf die verbliebenen Märkte und die damit verbundene Preisexplosion. Weil Russland und die Ukraine bei der Getreideversorgung so eine zentrale Rolle gespielt haben, müssen wir uns auch Gedanken machen, ob wir nicht angesichts einer kollabierenden Nahrungsmittelversorgung Wege ausverhandeln können, wie zumindest ein begrenzter Nahrungsmittelexport möglich ist. Darüber hinaus müssen wir Liquidität mobilisieren: Viele Entwicklungsländer brauchen nun Zugang zu Finanzmitteln, damit sie funktionsfähig bleiben. Es gibt in so einer Krise keine Zauberformel, aber einen Reigen von Möglichkeiten, mit dem zumindest Krisenmanagement betrieben werden kann.
Was können die betroffenen Regierungen, die ihre Bevölkerung nicht selbst versorgen können, nun unternehmen?
Sie haben relativ wenig Spielraum. Man kann ja nicht nun Getreide schneller anbauen und zur Ernte bringen. Sie sind also auf die Weltmärkte angewiesen. Und dort steigen die Preise.
Durch die globale Vernetzung ging aber auch viel landwirtschaftliche Fläche verloren, in Ostafrika wurden stattdessen etwa Blumen für den Export gezüchtet. Hat nun die Idee der Globalisierung einen Rückschlag erlitten?
Wir erleben in unserer jetzigen Lage, dass eine verflochtene Weltwirtschaft Risiken birgt. Aber wir leben in einer hochkomplexen Welt mit acht Milliarden Menschen, und wenn nicht ein Teil sehr reich und der andere sehr arm sein soll, dann müssen wir miteinander handeln. Wir müssen damit umgehen, dass man in gewissen Weltregionen sehr einfach sehr viel Überschuss an Getreide produzieren kann und das Gleiche in anderen Regionen wie dem Sahel nicht gelingen wird. Oder wenn wir über die Energiewende sprechen, dann kann man in Teilen der Welt mit Solar- und Windkraft einen Strompreis erzeugen, der in Europa in der Form nicht möglich ist. Damit kann zum Beispiel die Produktion von grünen Energieträgern in Panama, Namibia oder Indien in einer Größenordnung erfolgen, der unsere Energieversorgung nachhaltig umwandeln kann. Wir sollten uns deshalb auch in Zukunft mit der Frage befassen, wie wir eine Weltwirtschaft entwickeln können, die das Miteinander belohnt. Denn mit dem Gegeneinander in Form eines Rückzugs werden wir langfristig nicht erfolgreich sein.
Sie sind seit Jahrzehnten in der Entwicklungspolitik tätig. Ist es in Krisen, wie wir sie jetzt erleben, nicht die Tragik, dass wir immer wieder trotz aller Warnungen zu spät reagieren?
Das beschäftigt tatsächlich viele Kollegen und mich, denn als Vereinte Nationen haben wir auch den Auftrag, frühzeitig vor globalen Risiken zu warnen. Wir müssen uns aber auch vor Augen halten, dass die vergangenen 200 Jahre im Grunde eine Erfolgsstory in Bezug auf Entwicklung sind. Die Lebenserwartung hat sich in Teilen der Welt verdoppelt, und wir haben in den vergangenen Jahrzehnten mehr Reichtum geschaffen als in den tausenden Jahren davor, wobei er aber sehr ungleich verteilt ist. Wir leben in einer immer komplexeren Welt, das erfordert neue Plattformen für die Zusammenarbeit - auch vor dem Hintergrund, dass wir an die ökologischen Grenzen unseres Planeten geraten. Man denke nur an die Wasserknappheit und die Vertrocknung fruchtbarer Böden. Wir benötigen hochintelligente Systeme, müssen effizienter werden und mehr Kreisläufe entwickeln. Dafür wächst das Bewusstsein, und man sieht viel Innovation. Trotz der vielen Warnlichter kann ich deshalb nicht sagen, die Lage sei hoffnungslos. Wir haben Möglichkeiten, wie wir sie niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte hatten. Man stelle sich vor, dass Kinder in 50 Jahren die Erdölförderung mit all ihren schädlichen Konsequenzen für das Klima nur noch aus dem Schulbuch kennen. Das ist nicht Science-Fiction, ein völlig neues Energiezeitalter ist möglich. Daran halte ich mich fest, wenn man mich fragt, ob man in der derzeitigen Situation überhaupt noch optimistisch sein kann.
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