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Erinnerungen an die 1930er

Von Thomas Seifert aus Davos

Politik
Von der Leyen will alte Ketten durch neue Bindungen ersetzen.
© reu / Arnd Wiegmann

EU-Kommissionschefin von der Leyen über die UdSSR und wie russischer Brot-Erpressung heute begegnet wird.


EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat beim Weltwirtschaftsforum in Davos am Dienstag daran erinnert, dass Josef Stalins Sowjetunion schon einmal Hunger als Waffe eingesetzt hat. "In der von Russland besetzten Ukraine konfisziert die Armee des Kremls die Getreidebestände und Maschinen. Das erinnert einige an eine dunkle Vergangenheit - die Zeiten der sowjetischen Beschlagnahme der Ernten und der verheerenden Hungersnot der 1930er Jahre."

Von der Leyen spricht eine dunkle Phase in der Geschichte der Ukraine an: den Holodomor. Holod: Hunger. Mor: Auslöschung. 1932 verheerte eine Hungersnot die Sowjetunion - und in der Ukraine war sie katastrophal. Mindestens fünf Millionen Menschen starben zwischen den Jahren 1931 und 1934 durch Stalins Zwangskollektivierungs- und Landwirtschaftsreformmaßnahmen.

Und heute, so der Vorwurf von der Leyens, würde Russland bewusst Getreidelager in der Ukraine bombardieren und ukrainische Schiffe mit Weizen und Sonnenblumenkernen im Schwarzen Meer blockieren. Im Schwarzmeerhafen von Odessa liegen Millionen Tonnen Getreide in den Silos, die nicht exportiert werden können, weil die russische Marine den Seeweg blockiert. Auch mit Rapsöl beladene Tanker können den Hafen wegen der russischen Seeblockade nicht verlassen.

Der Kreml wiederum macht die westlichen Sanktionen gegen die Russische Föderation für die steigenden Preise und die Nahrungsmittelkrise verantwortlich.

Kommissionspräsidentin von der Leyen sagte: Moskau setzt den Zugang zu Lebensmitteln als Waffe ein. Weizen gebe es nun nur gegen geopolitische Unterstützung. "Dahinter steckt nur ein Gedanke: Russland nutzt Hunger und Getreide, um Macht auszuüben." Die Preisexplosion mache vor allem Ländern im Nahen Osten und in Afrika zu schaffen, die Brotpreise im Libanon seien um bis zu 70 Prozent gestiegen. Europa würde versuchen, die eigene Produktion zu steigern und blockierte Lieferungen aus der Ukraine auf den Weltmarkt zu bringen. Gleichzeitig würde die Union Länder dabei unterstützen, die Importabhängigkeit zu verringern.

Doch wie schlimm wird es? Nach einem neuen Report des Risiko-Consulting-Unternehmens Eurasia Group und der Ernährungssicherheitsexperten von Gro Intelligence könnten mehr als 280 Millionen Menschen weltweit davon betroffen sein, dass sie keine gesicherte Ernährungsbasis mehr finden, 200 Millionen Menschen werden wohl in extreme Armut schlittern und die Zahl jener, die unmittelbar von Hunger bedroht sind, wird um sieben Millionen steigen. Vor allem Haushalte im Nahen Osten, Nordafrika und Teilen von Süd- und Südwestasien werden der Studie zufolge betroffen sein.

Freiheit vor Freihandel, fordert Stoltenberg

Unmittelbar nach von der Leyen trat Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Davos auf die Bühne. Der Norweger sagte, er sei sehr zuversichtlich, dass die Vorbehalte der Türkei gegen die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die Nato ausgeräumt werden können. Beide Länder wollen nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine in die Militärallianz, die Türkei wirft den beiden Ländern aber Unterstützung für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Kurdenmiliz YPG in Syrien vor. Am Mittwoch werden in Ankara Delegationen aus Schweden und Finnland zu Gesprächen erwartet, wie das türkische Außenministerium mitteilte.

Vor den Eliten in Davos warnte Stoltenberg die westlichen Länder vor der Verwendung chinesischer Technologie in den neuesten 5G-Mobiltelefonie- und Datennetzwerken und nannte die Pipeline Nord Stream 2 für russisches Gas ein Projekt, bei dem Europa eine Lektion gelernt habe. Berlin stoppte diese Pipeline, die unter der Ostsee Gas aus Russland direkt nach Deutschland hätte bringen sollen. "Wir müssen anerkennen, dass unsere wirtschaftlichen Entscheidungen Konsequenzen für unsere Sicherheit haben. Freiheit ist wichtiger als Freihandel, der Schutz unserer Werte hat Priorität vor Profiten."

Österreichs Kanzler Karl Nehammer nimmt wider Erwarten nicht in Davos teil. Er wird durch Finanzminister Magnus Brunner und Außenminister Alexander Schallenberg (alle ÖVP) vertreten.