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Rote Fahnen im Nato-Partnerland

Von WZ-Korrespondent Tobias Käufer

Politik
Vor der Kathedrale in der Hauptstadt Bogota schwenkt ein Demonstrant die Flagge der Sowjetunion.
© Tobias Käufer

Kolumbien steht vor einem Linksruck: Erstmals könnte das Land von einem sozialistischen Präsidenten und Ex-Guerillero regiert werden. Für die einen ist Gustavo Petro ein Hoffnungsträger, die anderen fürchten eine Diktatur.


Ein solcher Auftritt beendet normalerweise die politische Karriere: Gerade war Gustavo Petro von einer Auslandsreise aus Europa wieder in Kolumbien angekommen, da stürzte sich der Linkspolitiker schon wieder in den Wahlkampf. Gedränge, Schultergeklopfe und dann die Entscheidung, trotz Jetlag auf die Bühne zu gehen. Dummerweise hatte der ehemalige Guerillero zuvor ein paar Schnäpse getrunken, und so geriet die Rede zu einem viralen Hit. Der angetrunkene Petro lallte vor gehissten roten Fahnen, die Anhänger jubelten. Doch Petros angetrunkener Wahlkampfauftritt schadete ihm nicht - im Gegenteil. Der ehemalige Guerillero wirkte damit volksnah, wie ein Nachbar, der im Stammlokal beim Frühschoppen seine politischen Ansichten äußerte. So ganz anders als die Anzugträger der politischen Elite aus Bogota.

Gustavo Petro, 62 Jahre alt, Sozialist und ehemaliges Mitglied der Guerilla-Bewegung M19, greift in Kolumbien nach der politischen Macht. Stimmen die Umfragen, dann gewinnt er den ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl am Sonntag. Ob es allerdings für die notwendigen 50 Prozent für die Präsidentschaft reicht, steht auf einem anderen Blatt. Wahrscheinlicher ist eine Stichwahl Ende Juni.

Ex-Geisel und Ex-Kandidatin für das Präsidentenamt: Ingrid Betancourt.
© Tobias Käufer

Petro führt das Linksbündnis "Pacto Historico" an, das für einen radikalen Politikwechsel in Kolumbien steht. Das südamerikanische Land ist Nato-Partner und einer der engsten, vielleicht sogar der letzte wirkliche Verbündete der USA in Südamerika. Petro gilt als USA-Kritiker, als Russland-Freund, was ihm mal despektierlich, mal liebevoll den Spitznamen "Petrovsky" eingebracht hat. Russland und die USA werfen sich nun gegenseitig vor, die Wahlen in Kolumbien beeinflussen zu wollen.

In den Armenvierteln kommt das Wirtschaftswachstum nicht an

Kein anderer aktueller Politiker polarisiert in Kolumbien so wie Petro. Er ist ein Viel-Twitterer, es gibt unglückliche Videos, die zeigen, wie er mit Plastiksackerln voller Bargeld hantiert, aber eben auch volks- und lebensnahe Auftritte.

Für die einen, überwiegend die jungen Kolumbianer, ist er ein Hoffnungsträger. Jener Generation, die die bisweilen brutal zusammengeschlagenen Sozialproteste ausgehend im Jahr 2019 getragen hat. Die nie etwas anders erlebt hat als ein Land, das von Rechtsaußen oder Mitte-rechts regiert wird. Petro ist eine Mischung aus einem Linkspopulisten, Kommunisten und Sozialdemokraten - manchmal unberechenbar, manchmal nachdenklich.

Der ehemalige Bürgermeister Bogotas hat die Nöte der einkommensschwachen Bevölkerung erkannt, die unter den Nachwirkungen der Corona-Krise, der Inflation und einer strukturellen Benachteiligung leidet. Zwar hat Kolumbien in den letzten Monaten atemberaubende Wachstumszahlen hingelegt, doch auf dem Land und in den Armenvierteln kommt davon zu wenig an. Das liegt auch daran, dass klassische linke Politik wie das Eintreten für Arbeiterrechte, für Gewerkschaften, für gerechte Löhne in Zeiten des Krieges gegen die Farc-Guerilla bequemerweise von der rechten Regierung in einen Topf geworfen wurde. Das rächt sich nun für die herrschenden Eliten.

Petro verspricht den Vergessenen und Unsichtbaren mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Arbeitsplätze, bessere Jobs, Frieden und viele Millionen Touristen. Er verspricht, dass unter seiner Präsidentschaft Sozialaktivisten und Menschenrechtsverteidiger nicht mehr ermordet, sondern vom Staat beschützt werden. Er verspricht einen Umbau hin zu einer sozialgerechten ökologischen Landwirtschaft, den Stopp der Erdölproduktion und des Bergbaus. Das ist eine ganze Menge. "Kolumbien braucht Sozialismus", sagt Petro.

"Menschen fühlen sich vom Staat allein gelassen"

Eine, die in einer der vergessenen Städte Kolumbiens lebt, fasst die Stimmungslage der jungen Menschen vor Ort so zusammen: "Für sie wäre es enorm wichtig, selbst zu erleben, dass ein Machtwechsel mit friedlichen Mitteln möglich ist - also mit der Abgabe der Stimme an der Wahlurne", meint Ulrike Purrer. Sie arbeitet in Zusammenarbeit mit dem Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat im Kulturzentrum "Centro Afro" in der südkolumbianischen Stadt Tumaco, die besonders unter der Gewalt des Drogenhandels leidet. "Es gibt hier nicht einmal ein Abwassersystem, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, die Menschen fühlen sich vom Staat alleine gelassen", erzählt Purrer der "Wiener Zeitung". Doch sie stellt auch fest: "Die Sozialproteste haben die junge Generation politisiert; die Menschen wollen jetzt mitgestalten."

Unterstützt wird Petro von einer prominenten Kandidatin für das Vize-Präsidentenamt: Die Afrokolumbianerin Francia Marquez, ausgezeichnet mit dem renommierten Goldmann-Umweltpreis, legte einen starken Start hin, erlaubte sich aber einige schwere Patzer. So machte sie den Import teurer deutscher Hühnereier für die hohen Eierpreise im Land verantwortlich. Der Haken: Kolumbien produziert alle Eier selbst; aus Deutschland kommen bestenfalls Überraschungseier.

Neben dem heutzutage üblichen Spott in den sozialen Netzwerken ist die Äußerung für Marquez noch aus einem anderen Grund ein Problem: Ein zentrales Wahlkampfversprechen ist der Umbau hin zu einer ökologisch-sozialgerechten Landwirtschaft. Da sollten die Protagonisten schon wissen, welche Agrarprodukte im Land hergestellt werden und welche nicht. Die Kleinbauern, die Campesinos, um deren Stimmen Marquez wirbt, wissen das nämlich.

Vorbote einer linken Diktatur wie in Venezuela?

Für die andere Hälfte Kolumbiens ist Petro der Vorbote einer linken Diktatur nach dem Vorbild Venezuelas, Kubas oder Nicaraguas. "Wenn Petro gewinnt, dann gibt es in vier Jahren keine Wahlen mehr in Kolumbien", sagt Ingrid Betancourt, die ehemals berühmteste Geisel der Welt, die mehr als sechs Jahre lang unter erbärmlichen Bedingungen im kolumbianischen Dschungel in den Händen der Farc-Guerilla gefangen war. Betancourt trat selbst als Präsidentschaftskandidatin für die Umweltpartei Oxigeno an, war die einzige Frau im Rennen. Zwar war sie gegen die Platzhirsche chancenlos, aber wegen ihrer Prominenz und ihrer Lebensgeschichte hat sie eine starke mediale Präsenz in Kolumbien. Inzwischen hat sie ihre Bewerbung zurückgezogen und unterstützt die Kandidatur des rustikal-konservativen Ex-Bürgermeisters Rodolfo Hernandez.

Petros härtester Gegenspieler ist aber Federico Gutierrez, ein konservativer Politiker, der offenbar aus den Fehlern des aktuellen rechtskonservativen Amtsinhabers Ivan Duque gelernt hat. Anders als Duque, der mehr oder weniger widerwillig die Vorgaben des 2016 abgeschlossenen Friedensvertrages umgesetzt hat, stellt sich "Fico", wie ihn seine Anhänger nennen, im Wahlkampf verbal hinter das Papier.

Prominente Unterstützung von einem Radprofi

Kolumbiens aktueller Präsident Duque stammt aus dem Lager des rechten Hardliners und Ex-Präsidenten Alvaro Uribe (2002-2010) und kann wegen einer in der Verfassung festgeschriebenen Amtszeitbegrenzung nicht erneut antreten. Damit geht in Kolumbien eine Ära zu Ende, denn das Uribe-Lager hat in den letzten Jahren die Politik dominiert und die Präsidenten gestellt - und es verpasst, sich nach dem Ende des Krieges mit der Farc inhaltlich und personell neu zu ordnen. Mit der Kriegsrhetorik von einst lassen sich aber keine Wahlen mehr gewinnen, vor allem, wenn ehemalige Gegner nicht mehr schießen, sondern als Abgeordnete im Parlament sitzen. Nun steht Uribe selbst am Pranger, ihm droht wegen der Verstrickung in mögliche Kriegsverbrechen ein Prozess.

Gutierrez ist so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner des konservativen Lagers - ein Petro-Verhinderer. Der Ex-Bürgermeister von Medellin hat allerdings einen überraschenden Unterstützer: Radprofi Egan Bernal, seit seinem Tour-de-France-Sieg ein Volksheld, schrieb auf Twitter, es sollte nicht länger Hass zwischen den sozialen Klassen gesät werden. Gutierrez sei ein Politiker, der das Land versöhnen könnte: "Meine Stimme bekommt Gutierrez." Dessen Sieg wäre laut Umfragen wohl erst in der zweiten Etappe möglich, dann, wenn sich das Land in einer Stichwahl zwischen Sozialismus und Kapitalismus entscheiden müsste. Gutierrez könnte da wohl auf eine Koalition der Petro-Gegner bauen.