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Im Eilverfahren nach Ruanda

Von WZ-Korrespondentin Simone Schlindwein

Politik

London schiebt Asylwerber nach Afrika ab. So sollen Schlepper bekämpft und Migranten entmutigt werden.


Rund 130 Asylsuchende sollen am Dienstag aus Großbritannien nach Ruanda abgeschoben werden - dabei stammen sie nicht von dort. Ein Richter des Hohen Gerichts in London hat vergangenen Freitag in seinem Urteil bestimmt, dass die Abschiebung durchgeführt werden soll. Es liege im "öffentlichen Interesse", so der Richter, dass die Regierung "in der Lage ist, die Immigrationskontroll-Entscheidungen umzusetzen".

Menschenrechtsorganisationen und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sowie die Gewerkschaft der britischen Grenzpolizei hatten gegen den Abschiebedeal Klage eingereicht. Sie argumentierten, dass die Abschiebung von Menschen, die in Großbritannien Asyl suchen, gegen ihre Rechte verstoßen würde und die Regierung in London nicht ausreichend begründen könne, dass Ruanda ein sicheres Land für diese Menschen sei.

Bei den 130 Asylsuchenden handelt es sich um Migranten und Geflüchtete, die in den vergangenen Jahren von Frankreich aus kommend mit kleinen Booten den Ärmelkanal überquert hatten, um in Großbritannien Asyl zu beantragen. Allein im vergangenen Jahr hatten über 21.000 Menschen über diese Route die Insel erreicht, die meisten von ihnen sind West- oder Ostafrikaner.

Entmutigungsstrategie

Der Plan der britischen Regierung: Diese Menschen nun ohne Rückflugticket nach Afrika abzuschieben, um andere zu entmutigen, den selben Weg zu versuchen, und so den Schleusern das Handwerk zu legen. Zudem sollen die hohen Kosten der Unterbringung von Asylsuchenden - derzeit 5,6 Millionen Euro pro Tag - durch die Schnellüberstellung nach Ruanda gesenkt werden.

Im April unterzeichneten der britische Innenminister Priti Patel und Ruandas Außenminister Vincent Biruta in Ruandas Hauptstadt Kigali den Flüchtlingsdeal, nur zwei Monate, bevor in dem kleinen zentralafrikanischen Land das Commonwealth-Treffen (Chogum) stattfindet, das wichtigste internationale Gipfeltreffen der Commonwealth-Nationen und ein Prestigeevent für Ruanda. Als Mitglied des Commonwealth bemüht sich Kigali gerade, im besten Licht zu glänzen: Sicherheit, Entwicklung, Freiheit und demokratische Rechte werden in den Medien betont. Gleichzeitig kriselt es im Nachbarland, der Demokratischen Republik Kongo, wo seit Wochen wieder gekämpft wird. Kongos Armee beschuldigt Ruanda, den Rebellen der M23 (Bewegung des 23. März) militärisch zu helfen.

Ruandas Außenminister Vincent Biruta betonte bei der Unterzeichnung des Flüchtlingsdeals, Ruanda "begrüße" diese Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich: "Hier geht es darum, sicherzustellen, dass die Menschen geschützt, respektiert und befähigt werden, ihre eigenen Ambitionen voranzutreiben und sich dauerhaft in Ruanda niederzulassen, wenn sie dies wünschen."

Ruandas Regierung, die aufgrund der Corona-Pandemie enorme Defizite im Staatsbudget hat, erhält dafür aus London 120 Millionen Pfund, umgerechnet 144 Millionen Euro. Der sogenannte Ökonomische Transformations- und Integrationsfond, der dafür in London aufgesetzt wurde, soll vor allem für Sekundärbildung, Universitäts- und Berufsausbildung sowie Sprachangebote eingesetzt werden, nicht nur für Migranten.

Davon profitiert das Land langfristig, weil sich das Bildungsangebot auch an Ruandas Jugend richtet, so die Regierung in Kigali. Ruanda sichert den Migranten wiederum eine Arbeitserlaubnis und freien Zugang zur Gesundheitsversorgung zu, sollten sie entscheiden, in Ruanda bleiben zu wollen. Es sollen aus dem Fond langfristig auch Start-ups junger Unternehmer unterstützt werden, vor allem in Ruandas aufsteigender Tech-Szene.

Flüchtlingsaufnahme gegen Entwicklungshilfe - dieser Plan stößt allerdings auf breite Kritik. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sprach von einem Verstoß gegen die UN-Flüchtlingskonvention. 160 britische Hilfsorganisationen erklärten geschlossen das Programm für "schandhaft und grausam". Sie schätzen die wahren Kosten auf bis zu umgerechnet 1,7 Milliarden Euro pro Jahr.

Ruanda präsentierte sich in den vergangenen Jahren mehrfach als Aufnahmeland für Migranten. In dem Land leben derzeit etwa 120.000 Geflüchtete, vor allem aus den Nachbarländern Burundi und Kongo. Innenminister Patel will britischen Berichten zufolge die Verletzlichsten dieser Geflüchteten im Austausch im Vereinigten Königreich aufnehmen.

UNHCR verfährt ähnlich

Die Kritik des UNHCR am britisch-ruandischen Abkommen wird freilich dadurch kontrastiert, dass das UNHCR selbst ähnlich verfährt. Seit 2019 landen in Kigali UNHCR-Charterflüge aus Libyen. An Bord: Migranten und Geflüchtete, meist aus West- und Ostafrika, die das UNHCR aus libyschen Lagern evakuiert hat. Im November 2021 verlängerten Ruanda, die Afrikanische Union und UNHCR die entsprechende Vereinbarung bis Ende 2023.

Bislang wurden auf diese Weise über 1.000 Menschen nach Ruanda ausgeflogen - zuletzt Anfang Juni. Sie haben die Wahl, in Ruanda zu bleiben, in ihr Heimatland zurückzukehren oder in ein weiteres Drittland umgesiedelt zu werden. 70 Prozent wählen eine der beiden letzteren Optionen, verlassen Ruanda also wieder. Das UNHCR in Ruanda gibt an, dass davon 629 Flüchtlinge in verschiedene Länder in Europa und Kanada umgesiedelt wurden. Die verbleibenden Personen "durchlaufen verschiedene Fallbearbeitungen", so der UNHCR-Sprecher. Derzeit leben rund 370 Migranten im UNHCR-Auffanglager in Gashora, rund 60 Kilometer außerhalb von Kigali. Die meisten warten auf eine Zusage von Drittländern, dorthin umgesiedelt zu werden.

Der sogenannte Notfalltransitmechanismus wurde durch eine Absichtserklärung zwischen UNHCR, der Regierung Ruandas und der Afrikanischen Union eingerichtet. Es handle sich dabei, so UNHCR, um eine Maßnahme der "humanitären Nothilfe bei schlimmen und lebensbedrohlichen Bedingungen". Flüchtlinge und Asylsuchende geben dabei ihre Zustimmung, bevor sie evakuiert werden. Dies sei bei dem Migrationsdeal mit Großbritannien nicht der Fall.