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Leben im Schatten

Von WZ-Korrespondent Emran Feroz

Politik

Hunderttausende afghanische Geflüchtete wohnen seit Jahren in der Türkei. Nun droht vielen von ihnen die Abschiebung.


Nadim wirkt erleichtert, während er Tee und getrocknete Früchte serviert. Er weiß, dass er hier, in seiner Ecke, ungestörter sprechen kann als im Istanbuler Touristenviertel Beyoglu. Dort wimmelt es vor Polizisten, die junge, nicht-türkische Männer wie ihn oft kontrollieren. "Wir leben hier alle in der Illegalität", erklärt Nadim.

Dann nimmt er Platz auf seiner Schlafmatratze. Sie wirkt alt und abgenutzt, doch eine andere Sitzgelegenheit gibt es nicht. Nadim hat keine Wohnung oder auch nur ein eigenes Zimmer. Gemeinsam mit seinem Freund Rahmatullah lebt er an seinem Arbeitsplatz, in einer alten Stahlfabrik in einem abgelegenen Industrieviertel der türkischen Metropole. Dort reinigen sie schweres Gerät, schweißen Stahlstücke zusammen und trennen Müll.

Die zwei Afghanen, 21 und 23 Jahre alt, stammen aus demselben Dorf in der ostafghanischen Provinz Logar. Nadim schloss sein Wirtschaftsstudium im Norden des Landes ab und wollte für die mittlerweile gestürzte Regierung arbeiten. Ex-Präsident Ashraf Ghani floh nach der Machtübernahme der Taliban im August des Vorjahres in die Vereinigten Arabischen Emirate.

Schon bevor Nadim seine Stelle antreten konnte, erreichten ihn Drohungen aus seinem eigenen Heimatdorf, berichtet er. "Du darfst nicht für die Regierung arbeiten. Sonst holen wir dich", habe es damals geheißen. Der Grund: Regionen wie das eher ländliche Logar wurden bereits damals, 2020, von den Taliban kontrolliert. Familien wie die von Nadim lebten schon lange unter den Strukturen der Radikalislamisten und wussten, wo die rote Linie verlief. Die Brutalität des Krieges in Afghanistan prägte ihren Alltag.

Flucht übers Meer

Nadim wuchs mit nächtlichen Razzien der US-Truppen und Luftangriffen auf, die oft Zivilisten das Leben kosteten. Der amerikanische Antiterror-Krieg trieb viele Verwandte, Freunde und Klassenkameraden aus Logar in die Arme der Extremisten, erzählt der Mann. Doch für Nadim kam das nicht infrage. Er sah für sich keine Zukunft in Afghanistan und flüchtete gemeinsam mit Rahmatullah, der sein Medizinstudium abgebrochen hatte.

Im Sommer 2020 fanden sie einen für die damaligen Verhältnisse günstigen Schlepper. Der verlangte 1.000 US-Dollar pro Kopf und brachte die Männer über den Iran in die Türkei. Die Flucht begann in der Provinz Nimroz nahe der iranischen Grenze, ein Hort von Drogen- und Menschenschmugglern, und endete in einem Vorort von Istanbul, den hauptsächlich afghanische Geflüchtete bewohnten. "Unsere Reise sollte nicht hier enden. Wir wollten weiter nach Europa und starteten mehrere Versuche. Der letzte fand erst vor kurzem statt", sagt Rahmatullah.

Im November des vergangenen Jahres machten sich die beiden Freunde gemeinsam mit anderen Afghanen auf den Weg nach Griechenland, wie sie berichten. Dort habe ihre Reise allerdings ein abruptes Ende genommen: Wenige Kilometer vor der griechischen Küste stellten sich Beamte der EU-Grenzschutzagentur Frontex ihnen in den Weg und hätten ihr Schiff angegriffen. "Sie rammten unser Boot und richteten ihre Waffen auf uns. Dann nahmen sie uns mit Gewalt fest. Es war, als ob wir Piraten begegnet wären", meint Nadim.

Mehrere Passagiere seien aus Angst ins Wasser gesprungen und ertrunken. "Viele Afghanen können nicht schwimmen", ergänzt Nadim, während Rahmatullah versucht, das Grauen zu beschreiben: "Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es war wie in einem Albtraum. Hätte ich doch Logar nie verlassen, dachte ich mir damals."

Drangsaliert und verprügelt

Bevor sie zurück in die Türkei gebracht worden seien, hätten sie zehn Stunden in einem griechischen Gefängnis ausharren müssen. Dort, so berichten sie, seien sie drangsaliert und verprügelt worden. Außerdem gab es weder Nahrung noch Wasser. "Sie schickten uns zurück, doch uns wurden all unsere Wertsachen abgenommen. Sogar unsere Kleidung mussten wir dalassen. Wir verließen Griechenland in Unterhosen", sagt Nadim. Über ein Boot wurden die Geflüchteten in die Nähe türkischer Gewässer gebracht. Dort wurden sie von griechischen Grenzbeamten aufgefordert, ins Meer zu springen. "Das Wasser war nicht tief, doch jene, die nicht schwimmen konnten, ertranken wohl trotzdem. Wir haben zwei, drei Personen nach unserer Ankunft auf der türkischen Seite nicht wiedergefunden", erinnert sich Nadim.

Frontex wurde von der "Wiener Zeitung" mit den Vorwürfen konfrontiert und behauptet, keinerlei Wissen über den Vorfall zu haben.

Zurück in der Türkei, fand das Martyrium kein Ende. Nachdem einige Anwohner den Menschen Lebensmittel und Kleidung gegeben hatten, begann die Rückreise nach Istanbul. Das nächste Hindernis: die türkische Grenzpolizei. Über sie sagt Rahmatullah: "Sie schlagen ohne Vorwarnung zu. Einige der Männer, die mit uns aufgegriffen wurden, waren am Ende teils schwer verletzt. Sie mussten mit einem Krankenwagen abtransportiert werden, weil sie nicht mehr gehen konnten." Nadim, Rahmatullah und die anderen Afghanen durften weiterziehen. Einer der Beamten zeigte Mitleid. "Er machte uns klar, dass er beide Augen zudrücken würde. Andernfalls hätte man uns in ein Lager gebracht", sagt Rahmatullah. Der Illegalität konnten die Männer aber nicht entrinnen.

Ausgebeutete Arbeitskräfte

In Istanbul begann für Rahmatullah und Nadim abermals der triste Alltag, dem sie entrinnen wollten. Sie hätten, erzählen die beiden, in zwei verschiedenen Fabriken gearbeitet, meist bis zu dreizehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Fast alle Arbeiter dort seien Afghanen gewesen, sie würden unterbezahlt und ausgebeutet. Ein Bekannter hatte die beiden vermittelt.

Ein türkischer Staatsbürger würde für dieselbe Arbeit 4.200 türkische Lira, rund 270 Euro, erhalten. Die afghanischen Hilfsarbeiter ohne Papiere würden knapp die Hälfte ausbezahlt bekommen. Manchmal habe es auch deutlich weniger oder gar nichts gegeben. "Wir sind wie Leibeigene für die Chefs der Fabriken. Diese wissen, dass wir unsere Rechte niemals einfordern können", resümiert Nadim.

Nadim und Rahmatullah sind keineswegs Einzelfälle. Etliche afghanische Geflüchtete in der Türkei machen dieselben Erfahrungen. Gegenwärtig sollen sich an die 300.000 undokumentierte Afghanen im Land aufhalten. Sie sind institutionellem und gesellschaftlichem Rassismus sowie der Willkür des türkischen Staates ausgesetzt, der die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte in vielen Fällen duldet. Die meisten afghanischen Geflüchteten haben keinen Zugang zu medizinischen Einrichtungen oder zum regulären Arbeitsmarkt.

Sorgloser leben können nur die wenigen, die Geld haben: Geschäftsleute, Politiker oder auch wohlhabende afghanische Warlords, die in den letzten Jahren Immobilien - und damit auch eine Aufenthaltsgenehmigung, wenn nicht gleich die türkische Staatsbürgerschaft - kaufen konnten. Schätzungen zufolge gehören diesbezüglich Afghanen neben Irakern, Iranern und Russen zu den Spitzenreitern. Allein zwischen Jänner und Juli 2021 sollen mehr als 1.500 türkische Immobilien an afghanische Staatsbürger verkauft worden sein. Seit 2017 erhält man über einen Immobilienkauf in Höhe von einer Million US-Dollar einen türkischen Pass. 2019 wurde das Limit auf 250.000 US-Dollar heruntergesetzt. Daraufhin schoss der Immobilienkauf abermals in die Höhe.

Mauer entlang der Grenze

Währenddessen leben junge, mittellose Männer wie Nadim und Rahmatullah mit der Angst, jederzeit abgeschoben werden zu können. Denn trotz des Krieges in Afghanistan gab es in den vergangenen Jahren zahlreiche Abschiebewellen aus der Türkei. Sobald sich das anbahnte, änderte sich auch das Vorgehen der türkischen Polizeistreifen. "Meistens wird man nach Kontrollen kurz verwarnt und in einem anderen Stadtteil wieder abgesetzt. Doch sobald neue Abschiebungen anstehen, wird man in eines der Lager nahe der iranischen Grenzen gebracht - oder direkt in den nächsten Flieger, doch das geht ja gerade nicht. Noch nicht", erzählt Rahmatullah. Seit der Machtübernahme der Taliban im vergangenen August ist der Kabuler Flughafen weiterhin nicht in vollem Umfang funktionsfähig und wird von internationalen Airlines nicht angeflogen.

Doch dies ändert sich langsam, aber sicher. Vor kurzem unterschrieben die Taliban Kooperationsverträge mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die den Flughafen wieder in Gang setzen sollen. Als mögliche weitere Partner waren auch Katar, welches die Taliban seit Jahren politisch unterstützt, und die Türkei im Spiel.

Bis zur Machtübernahme der Taliban flogen die türkischen Abschiebeflieger regelmäßig nach Kabul. Oft waren abgeschobene Geflüchtete auch in kommerziellen Fliegern anzutreffen, in denen sich Entwicklungshelfer, Söldner oder Journalisten befanden. In den vergangenen Jahren hat sich die Türkei, ganz im Interesse der EU, zu einem der größten Auffanglager für Flüchtlinge entwickelt. Neben den Menschen aus Afghanistan sind es vor allem Millionen Syrer, die seit Beginn des Bürgerkrieges in ihrer Heimat ins Nachbarland geflohen sind.

Auf die letzte Fluchtbewegung von Afghanen hat die türkische Regierung bereits mit harten Maßnahmen reagiert, darunter mit dem Bau einer riesigen Mauer, die entlang der iranischen Grenze errichtet wurde. Sie soll Menschen wie Nadim oder Rahmatullah daran hindern, ins Land zu gelangen.

Nadim kommentiert das so: "Die Schlepper werden weiterhin Wege finden, und solange Menschen flüchten und dafür bezahlen, wird sich daran auch nichts ändern."