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Lulas bemerkenswertes Comeback

Von Philipp Lichterbeck

Politik

Aus dem Gefängnis in den Wahlkampf: Der Ex-Präsident fordert den ultrarechten Bolsonaro.


Lange bevor der Star des Abends eintrifft, hallt ein Chor durch die Halle in Sao Paulo: "Ole, Ole, Ole, Ola - Lula, Lula!" Es sind viele junge Menschen da, das Publikum ist bunt und schwenkt Fahnen und trägt Aufkleber mit Forderungen wie: "Gegen die Polizeigewalt in den Favelas!" Sie alle sind an diesem Tag hier, um ihren Hoffnungsträger zu feiern, einen Mann, der versprochen hat, Brasilien "wieder glücklich" zu machen: Luiz Inacio da Silva, bekannter als Lula.

Zwischen 2003 und 2011 war Lula Präsident Brasiliens, er galt als einer der erfolgreichsten und beliebtesten Politiker der Welt. Als er aus dem Amt schied, hatte er eine Zustimmungsrate von 83 Prozent und Barack Obama sagte, "I love this guy." Nun will Lula erneut in den Präsidentenpalast in Brasilia einziehen. Bei den Wahlen im Oktober tritt er gegen den ultrarechten Amtsinhaber Jair Bolsonaro an, und alle Umfragen deuten darauf hin, dass er gewinnen wird. Im ersten Wahlgang käme Lula Prognosen zufolge auf 45 Prozent, Bolsonaro auf 34 Prozent, alle anderen Kandidaten spielen keine Rolle.

Religiös verehrt und abgrundtief gehasst

Lula gegen Bolsonaro: Es ist das Duell zweier Männer, von denen jeder die Massen mobilisiert und Emotionen weckt. Beide werden von ihren Anhängern fast schon religiös verehrt und von ihren Gegner abgrundtief gehasst. Sie stehen für zwei Visionen von Brasilien, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Hier das Gesellschaftsmodell Bolsonaros, in dem heterosexuelle Männer, die Sicherheitskräfte, Großgrundbesitzer, wohlhabende Weiße und konservative Christen den Ton angeben. Dort Lulas Modell, in dem Arbeiter, Arme, sexuelle Minderheiten, Frauen, Schwarze und Indigene mehr Gehör finden und Brasilien sich weltoffen gibt. Es ist eine Richtungswahl - auch für Lateinamerika, dessen größte, bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Nation Brasilien ist. Extrem rechter Bolsonarismus gegen linken Lulismus. Beide Männer sind so prägend, dass zwei Ideologien nach ihnen benannt sind.

In Sneakern, Jeans und T-Shirt kommt Lula schließlich auf die Bühne, an der Hand seine neue, rund 20 Jahre jüngere Frau, Rosangela Silva, eine Soziologin, die Hochzeit der beiden liegt wenige Wochen zurück. Der Kontrast zwischen Lula und dem jungen Publikum ist augenscheinlich. Lula ist mittlerweile 76 Jahre alt, sein Haar ist schütter, sein Vollbart grau, sein Bauch runder und seine ohnehin schon raue Stimme klingt wie eine Säge auf rostigem Metall. "Die Liebe wird den Hass Bolsonaros besiegen", ruft er.

Die jungen Leute drängen zu ihm hin, er lacht, umarmt, verteilt Küsschen, schreibt Autogramme, hebt Kinder zu sich auf die Bühne. Lula ist im Wahlkampf, und es scheint, als ob er selbst den größten Spaß daran hätte. Von Erschöpfung keine Spur.

Auch in der Gefängniszelle blieb er Optimist

Als "einer, dem Politik durch die Adern fließt", beschreibt ihn Celso Amorim, der 2003 von Lula zum Chef des Außenamts berufen wurde und sich bis heute wöchentlich mit ihm austauscht. Lula sei immer Optimist gewesen - selbst als er monatelang in einer Gefängniszelle ohne Blick nach draußen gesessen habe.

Tatsächlich ist das Bemerkenswerteste am Comeback Lulas, dass er überhaupt wieder da ist. Denn die Dekade nach seinem Ausscheiden als Präsident 2011 war von persönlichen und politischen Katastrophen geprägt.

Sie ist eng mit dem Namen Sergio Moro verbunden. Der junge ehrgeizige Untersuchungsrichter hatte 2014 Korruptionsermittlungen rund um den staatlichen Erdölkonzern Petrobras aufgenommen, Brasiliens wichtigstes Unternehmen. Mit der Zeit legten Moro und sein Team ein weitverzweigtes Korruptionsnetzwerk offen, in das hunderte Politiker, Funktionäre und Unternehmer verwickelt waren. Obwohl Politiker zahlreicher Parteien involviert waren, wurden besonders Lula und seine Arbeiterpartei für das System verantwortlich gemacht, weil es unter ihnen entstanden war. Parallel rutschte Brasilien nach dem Wirtschaftsboom der Nullerjahre in die Rezession.

So wurde so aus dem einst beliebten Politiker des Landes "der Dieb Lula", von dem auf Demonstrationen Puppen in Gefängniskleidung geschwenkt wurden. Er und seine Arbeiterpartei hätten Brasilien ruiniert, wiederholten rechte Politiker und bürgerlichen Medien fast ununterbrochen.

Lula musste das umso mehr schmerzen, weil seine Regierungszeit bis dato als erfolgreich gegolten hatte. Nachdem er 2003 Präsident geworden war, rief Lula Sozialprogramme ins Leben, die von den UN als vorbildlich für andere Schwellenländer empfohlen wurden. Seine Regierung führte Quoten für Schwarze und Indigene an den Unis ein. Gleichzeitig wuchs die Wirtschaft jährlich um durchschnittlich vier Prozent, Brasilien eliminierte seine Schulden beim IWF. 40 Millionen Menschen stiegen laut offizieller Statistik in die Mittelklasse auf. Die Regierung beendete den Hunger und machte Brasilien zum Nahrungsmittelgiganten.

Das alles sollte nun nicht mehr gelten? Wer damals Brasiliens Medien verfolgte, konnte tatsächlich meinen, Lula habe versucht, das Land in eine kommunistische Diktatur zu verwandeln. Auf Massendemonstrationen der weißen Mittel- und Oberschicht wurden Banner geschwenkt: "Brasilien wird kein zweites Kuba!" 2016 musste Lula dann miterleben, wie seine Nachfolgerin im Präsidentenamt, Dilma Rousseff, in einem fragwürdigen Verfahren vom Kongress abgesetzt wurde. Bis heute spricht Lula von einem "Putsch".

Dann wurde Lula selbst 2017 nach einem langen Prozess von Richter Moro zu neun Jahren Haft wegen passiver Korruption verurteilt. Aus der Gefängniszelle erlebte er, wie der ultrarechte Hinterbänkler und ehemalige Militär Bolsonaro die Wahlen gewann und Moro zum Justizminister machte.

Für die Ärztin ist Lula ein betrügerischer Demagoge

Zu Bolsonaros treuen Wählern zählt die Kinderärztin Ludmila Quintas. Die 61-jährige, elegant gekleidete und dezent geschminkte weiße Frau sitzt in einem Café in Rios wohlhabender Südzone. Sie betreibt zwei Praxen und hält Bolsonaro zwar für einen ungehobelten Mann, "aber alles ist besser als dieser Lula".

"Ich verdanke alles Lula", sagt die Juristin Quenia Emiliano.
© P. Lichterbeck

Ihre Ablehnung hat auch mit Enttäuschung zu tun. "Ich habe Lula zwei Mal unterstützt und für ihn geworben", sagt sie, "aber er ist ein Dieb und Schnapstrinker." Quintas verzieht angeekelt das Gesicht. Sie sagt, dass all die linken Legenden über Lula nicht stimmten. "Wenn ich mir die Jugend von heute anschaue, dann sind das alles Analphabeten. Lula hat die Bildung ruiniert", sagt sie. Er habe zwar viele neue Hochschulen gegründet, aber die Grundschulen seien miserabel geblieben. "Was bringt es, Dumme auf Universitäten zu schicken?!" Für Menschen wie Quintas ist Lula nicht der Erlöser der Armen, sondern ein Demagoge, der die Massen verführt.

Dass Lula überhaupt zur Wahl antreten darf, hat mit einem Urteil des Obersten Gerichtshofs von 2019 zu tun. Es erklärte Lulas Inhaftierung indirekt für rechtswidrig. Seine politischen Rechte wurden wieder hergestellt.

1945 wurde Lula als siebtes von acht Kindern einer bitterarmen Familie im trockenen Nordosten Brasiliens geboren. Sieben Jahre später zog seine Mutter mit den Kindern nach Sao Paulo, wo Lula an Wochenenden Orangen verkaufte und Brennholz sammelte, um die Familie zu unterstützen. Als Lula mit 23 zum ersten Mal heiratete, starb seine Frau wenig später an Hepatitis. Sie war im achten Monat schwanger, und auch das Kind überlebte nicht. Lula redet häufig über diese für ihn prägenden Jahre. Er wisse, was es bedeute, arm zu sein und keinen Zugang zum Gesundheitssystem zu haben.

Für die Juristin ist Lula ein Hoffnungsträger

"Ich habe Lula alles zu verdanken", sagt Quenia Emiliano. Die 31-Jährige trägt Latzhosen, dazu einen afrikanischen Turban. Sie beendet gerade ihr Jus-Studium an der Bundesuniversität in Rio de Janeiro, einer der besten Hochschulen Brasiliens. Sie erinnert sich, wie sie sich zum Praktikum bei der Staatsanwaltschaft von Rio vorstellte und wie groß dort die Überraschung gewesen sei. Denn Emiliano ist schwarz. "Die Machtpositionen gehören in Brasilien den Weißen", sagt sie in der Uni-Mensa. "Die Schwarzen machen sauber." Emiliano hat sich hochgekämpft, ihr Vater war Straßenverkäufer und dessen Großvater Sklave.

Der jungen Frau steht nun eine Karriere als Anwältin bevor. Und dafür ist sie einem Menschen unendlich dankbar: "Presidente Lula!" Er habe bei ihr und Millionen anderen Brasilianern die Hoffnung auf ein besseres Brasilien geweckt, sagt sie. Und er habe konkrete Möglichkeiten für Menschen wie sie geschaffen. "Ich habe sie ergriffen."

Bevor er die Bühne in São Paulo verlässt, ruft Lula mit dem letzten Rest an Stimme: "Die Brasilianer werden wieder Fleisch, Reis und Bohnen auf dem Teller haben. Sie werden wieder ihre Tanks füllen können. Ich werde ein neues Brasilien aufbauen."

Rund 33,1 Millionen Brasilianer leiden wieder an Hunger - nur eine Dekade, nachdem der Hunger schon besiegt schien. Wie genau Lula seine Versprechen umsetzen will, sagt er nicht, aber sie sind das, was viele Brasilianer hören wollen.