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Der Mann, der Japan stark machen wollte

Von WZ-Korrespondent Felix Lill

Politik
© reuters / /Issei Kato

Der ermordete Premier war ein Freund großer Worte. Die Änderung der pazifistischen Verfassung gelang ihm nicht.


Shinzo Abe hält eine Rede, wie er sie über die vergangenen Jahre immer wieder gegeben hat: Japan müsse dringend die Verfassung umschreiben, damit das Land in der heute komplizierten Sicherheitslage auf ein kräftiges Militär zurückgreifen könne. Auch ein nach dem Desaster von Fukushima vor elf Jahren verstärkter Wiedereinstieg in die Atomkraft sei wichtig, zumal bei den hohen Energiepreisen von heute. Dann aber ist das alles vergessen. Abe sackt plötzlich zusammen. Man sieht nur noch einen Mann am Boden.

Der Täter, ein ehemaliges Mitglied der japanischen Selbstverteidigungskräfte im Alter von 41 Jahren, der eine selbstgebaute Waffe benutzt hat, wird praktisch sofort festgenommen. Shinzo Abe, der Japan ab 2006 und 2012 für ein Jahr beziehungsweise acht Jahre regiert hat, wird in ein nahegelegenes Krankenhaus gebracht. Schnell dringt die Nachricht durch, dass er kein Lebenszeichen mehr von sich gibt. Rund sechs Stunden nach dem Attentat ist der 67-jährige gestorben.

Schon bevor Abes Tod bestätigt ist, befindet sich ganz Japan in einer Art Schockzustand. Medien berichten im Minutentakt mit Updates, Freunde teilen alle möglichen Nachrichten über Messengerdienste, Amtsträger aller Couleur äußern sich zum Vorfall. Denn Abe ist nicht einfach ein Premierminister außer Diensten. Bis zum Tag seines Todes hat er zu den einflussreichsten Politikern des Landes gehört.

Attentat vor der Oberhauswahl am Sonntag

In der übermächtigen Liberaldemokratischen Partei (LDP), die Japan seit Ende des Zweiten Weltkriegs fast immer regiert hat, hat er eine wichtige Fraktion geleitet und übte damit maßgeblichen Einfluss auf Personal- und auch Richtungsentscheidungen der Regierung aus. Wohl auch deshalb eilte der aktuelle Premierminister Fumio Kishida direkt nach dem Attentat vor die Mikrofone und erklärte, dass nun alle Kabinettsmitglieder nach Tokio kommen müssten, um sich zur Lage zu beraten.

Denn dieses Attentat ist nicht nur ein besonderer Vorfall, es kommt auch zu einem besonderen Zeitpunkt: Am Sonntag soll das 125-Millionenland sein Oberhaus wählen, die zweite Kammer des Parlaments. Wie Abe, der auch nach seinem Rücktritt als Premier einen Sitz im Parlament innehatte, haben sich diverse Politikerinnen und Politiker im Wahlkampfmodus befunden. Und nun wird in den Trauermodus umgestellt.

Der Hergang dieses Vorfalls sowie die Gründe dafür werden über die kommenden Tage und Wochen noch genau diskutiert werden. Schon jetzt ist klar, dass mit Shinzo Abe ein Mann die politische Bühne verlassen hat, der wie kaum ein anderer über die letzten Jahre sein Land geprägt hat. Kein Premierminister hat Japan länger regiert als er, kaum einer hat den Menschen größere Versprechen gemacht. Mit dem rechtspopulistischen Spruch "Nippon wo torimodosu" (Japan zurückholen) erfand er einen Slogan, an den sich später wohl auch Donald Trump und die Brexit-Vertreter anlehnten.

"Abenomics" verpuffen weitgehend

Ein Künstler öffentlichkeitswirksamer Kommunikation war Abe schon früher. Als der einer Politikerdynastie entstammende Nationalist von 2006 bis 2007 erstmals Japan regiert, verspricht er in seinem Buch "Utsukushii kuni e" (Auf dem Weg zu einer schönen Nation) ein Wiedererstarken der japanischen Nation und unterteilt Politiker in zwei Gruppen: Diejenigen, die für ihr Land kämpfen, und diejenigen, die das nicht tun. Abe zählt sich zur ersten Kategorie.

Abes großes politisches Ziel ist die Änderung der Nachkriegsverfassung, die die im Zweiten Weltkrieg siegreichen USA dem ostasiatischen Land diktiert haben. Darin wird in Artikel 9 das Recht auf Kriegsführung verboten, was den auch nach dem Zweiten Weltkrieg einflussreichen Nationalisten ein Dorn im Auge ist. Mit Abe als Premierminister werden die in ihrem Mandat eingeschränkten Selbstverteidigungskräfte erstmals zu einem eigenständigen Ministerium aufgewertet. Doch mehrere Skandale, unter anderem um verlorene Daten der Pensionsversicherung, zwingen Shinzo Abe zum Rücktritt. Als offiziellen Grund gibt er eine seltene Darmkrankheit an.

Aber einer, der für sein Land kämpft, gibt nicht auf. Ende 2012, eineinhalb Jahre nach der Atomkatastrophe in Fukushima, die die Glaubwürdigkeit der damals regierenden Demokratischen Partei tief erschüttert hat, stellt sich Abe erneut zur Wahl und gewinnt. Einerseits verspricht er ein Wiederaufleben der seit Jahren stagnierenden Volkswirtschaft. Unter dem Banner "Abenomics" - eine Kombination aus lockerer Geldpolitik, hohen Staatsausgaben und Strukturreformen - soll eine neue Ära des Wachstums beginnen, die aber weitgehend Versprechen bleibt.

Atomkraftwerke wieder in Betrieb genommen

Auch sonst ist Abe eher erfolglos geblieben. Zwar ist es ihm gelungen, mehrere nach dem Atom-GAU abgeschaltete Atomreaktoren gegen den Mehrheitswillen wieder in Betrieb zu nehmen. Sein größtes Ziel aber, das Umschreiben der Verfassung und die Stärkung des Militärs, hat er nicht erreicht. Wie schon zu seiner ersten Amtszeit ist sein Kabinett bald von mehreren Skandalen umwittert, von Vetternwirtschaft über die illegitime Verwendung von Steuergeldern, sodass seine Zustimmungswerte schließlich erneut in den Keller gehen. Im Sommer 2020 tritt Abe wieder zurück. Offizieller Grund ist wieder seine Darmerkrankung.

So erwarteten viele Beobachter, dass die politische Karriere des Shinzo Abe mit dem Rückzug inmitten der Pandemie ihr Ende gefunden hat. Doch nach einer kurzen Ruhephase fühlte sich der Premier a.D. doch wieder besser und beginnt, sich erneut in politische Debatten einzumischen. Zuletzt hat Abe angekündigt, dass Japan militärisch zu Taiwan halten müsse, sobald China dort eine Invasion plane. Dann wütet er darüber, dass der jetzige Premier Kishida eine wirtschaftspolitisch leicht veränderte Linie fährt, womit Abe seine Politik in Gefahr gesehen hat.

So ist es nicht nur ironisch, dass die Karriere und das Leben von Shinzo Abe enden, während er eine politische Rede hält. Die bittere Ironie wird noch übertroffen, da sein offenbarer Mörder ein ehemaliger Angehöriger der Selbstverteidigungskräfte ist, die Abe ja immer stärken wollte. Doch inmitten zugenommener Aggression Chinas, der Unberechenbarkeit Nordkoreas und nun des wütenden Ukraine-Kriegs könnte dies dennoch die wichtigste Hinterlassenschaft von Shinzo Abe sein: Über die Frage eines stärkeren Militärs wird heute auch in Japan viel gesprochen.