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"Ohne Menschen hat die Natur keinen Sinn"

Von Walter Hämmerle und Stefan Winkler

Reflexionen
Peter Turkson, kam als viertes von zehn Kindern 1948 im heutigen Ghana zur Welt. Er studierte Theologie und Philosophie und wurde 1975 zum Priester geweiht. 2003 Weihe zum Kardinal. Ab 2009 stand er an der Spitze des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden. Seit 2022 ist er Vorsitzender der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Turkson spricht Fante und andere ghanaische Sprachen sowie Englisch, Französisch, Italienisch, Deutsch und versteht Latein und Hebräisch.
© Stefan Winkler

Kardinal Peter Turkson ist der oberste katholische Klima- und Umweltschützer. Ein Gespräch über Natur, Gott und Profit.


Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!", heißt es im Buch Genesis als Auftrag Gottes an die Menschen. Diese betrachteten mehr als 2000 Jahre lang die Natur als Eigentum. Ein Gespräch mit Kardinal Peter Turkson (73) über die Sicht der Kirche auf Natur, Wissenschaft und Kapitalismus.

"Wiener Zeitung": Herr Kardinal, was meint die christliche Lehre, wenn von Natur die Rede ist?Peter Turkson: Das Wort stammt aus dem Lateinischen, von "natus" - "geboren". Die Natur ist also etwas, das geschaffen ist. Für alle, die an Gott glauben, heißt das, dass wir Geschöpfe Gottes sind. Für die anderen ist Natur die von Biodiversität gebildete Umgebung, in der sie leben, ja die alles Leben eigentlich erst ermöglicht.

Die Natur ist auf den Menschen nicht angewiesen. Es gibt sie auch ohne uns.

Ohne den Menschen wird Natur zu etwas ohne Sinn.

Warum? Selbst wenn man an Gott als Schöpfer glaubt, sind doch auch Pflanzen und Tiere Teil dieser Schöpfung.

Ja, aber es ist der Mensch, der der Natur erst einen Sinn gibt. Wer würde von ihr reden, sie Natur nennen, wenn es den Menschen nicht gäbe?

Was folgt für Sie daraus?

Die Natur ist unser gemeinsames Zuhause. Wir Menschen sind verpflichtet, sie zu bewahren. In der Enzyklika "Laudato si" (deutsch: "Gelobt seist Du"; Anm.) von Papst Franziskus nimmt das Bemühen um eine integrale Ökologie eine zentrale Stelle ein. Ein Bild, das diese Sorge gut erklärt, finden wir in der Heiligen Schrift: den Garten Eden. Gott hat ihn geschaffen und den Menschen in ihn geführt. Die Natur muss also ein ganz besonderer Ort sein, den wir freilich nicht für uns, sondern auch für unsere Kinder und deren Nachkommen bestellen müssen, damit auch für diese Leben möglich ist.

Wo wir hier sitzen, in der Steiermark, waren vor Millionen Jahren Meere und tropischer Dschungel. Ist das Bild dieses vom Menschen als Krone der Schöpfung bestellten Gartens nicht sehr statisch und hierarchisch mit uns als Herrscher, wo doch die Wirklichkeit ständiger Veränderung unterworfen ist?

Sie irren! Ein Garten ist alles andere als statisch. Er beansprucht viel Zeit, muss bepflanzt, gejätet, gegossen, ständig gepflegt werden. Tut man das nicht, verwildert er. Ich weiß, es gibt Leute, die behaupten, dass die Welt ohne Menschen eine bessere wäre. Denn die Menschen würden die Erde zerstören.

Sie sind anderer Überzeugung?

Das kommt darauf an. Es muss nicht so sein, wenn die Natur für den Menschen da ist - und der Mensch für die Natur.

In Ihren Vorträgen beschreiben Sie immer wieder die negativen Folgen des kapitalistischen Systems und plädieren für eine Abkehr von der Idee des Wachstums. Ist Wachstum für Sie per se schlecht?

Wenn wir heute von der Klimakrise reden, sind wir uns alle einig, dass ihr Ursprung in der Industriellen Revolution und der Erfindung der kohlebetriebenen Dampfmaschine liegt. Uns als Kirche geht es aber nicht darum, beides zu verteufeln. Denn die Entdeckung der neuen Technologien führte zu einer Explosion an Innovation und Wissen. Und das war gut so. Worum es der Kirche geht, ist der menschengemachte Charakter dieser Krise. Wir sollten nicht nur einfach auf das Kohlendioxid in der Atmosphäre schauen, sondern uns auch fragen, wer es dorthin bringt. Die Klima- und Umweltkrise haben einzig und allein mit uns Menschen zu tun, mit unserem Hang zum Konsumismus. Wenn wir also wollen, dass sich etwas ändert, müssen wir Menschen uns ändern. Das ist die persönliche Entscheidung jedes Einzelnen - und es ist das, was der Papst in seiner Enzyklika als ökologische Bekehrung bezeichnet.

Die Industrielle Revolution war auch in anderer Hinsicht ein Wendepunkt: Unser Denken kreist ab da nicht länger allein um Gott, sondern um den Menschen. Leiden die Religionen noch immer an diesem Bedeutungsverlust?

Gott ist Gott, ob wir ihn anerkennen oder nicht. Das Christentum sieht im technischen Fortschritt keine Bedrohung. Die behaupteten Spannungen zwischen Technik und Glaube gibt es nicht. Ich stehe an der Spitze der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Deren Ziel ist es, die Naturgesetze zu studieren, um das Leben besser zu verstehen und lebenswerter zu machen. Würde die katholische Kirche als weltweit einzige Religionsgemeinschaft eine Akademie betreiben, wenn es sich anders verhielte?

Das Verhältnis der Kirche zur Wissenschaft war nicht immer so entspannt, wie die Geschichte und das Beispiel von Galileo Galilei zeigt ...

... und Galilei war ein Mitglied dieser Akademie. Als ich 2014 zum ersten Mal nach Davos gefahren bin, überbrachte ich dem Weltwirtschaftsforum eine Botschaft von Papst Franziskus: Business und Technologie stehen nicht in Widerspruch zu Gott. Vielmehr sollten sie sich als seine Partner, als Mitschöpfer begreifen. Ein Beispiel: Der Tisch, an dem wir hier sitzen, war nicht immer ein Tisch, sondern wurde durch menschliche Kreativität aus dem Holz eines Baumes zum Wohl und Nutzen der Menschen gefertigt. Das ist kein Gegensatz, das ist ein Miteinander.

Dieses Miteinander braucht etwas Drittes, um zu florieren: Kapital.

Ja, aber was ist die Schlussfolgerung daraus?

Kapital hilft uns, Lösungen zu finden. Ohne ausreichend Kapital hätte es nie so rasch wirksame Impfstoffe gegen Corona gegeben.

Stimmt. Es wurde aber auch viel Profit dabei gemacht.

Schlecht?

Ich sage nicht, dass das schlecht ist. Aber der Profit sollte nicht das einzige Ziel sein. Wir wissen, dass es auf der Welt viele vergessene Krankheiten gibt, an denen die Pharmaindustrie kein Interesse hat, weil sich kein Geld damit machen lässt. Ich bin nicht gegen den Markt. Aber wir sollten den Kapitalismus nicht absolut setzen. Er sollte nicht eine Erfahrung sein, die ein paar wenigen Leuten vorbehalten ist, sondern inklusiv sein und damit allen Menschen zugutekommen. Es ist der Mensch, der im Mittelpunkt stehen muss; er ist es, der kreativ und innovativ ist, also muss sich auch immer alles um sein Wohl drehen.

Bedauern Sie es eigentlich, in einem Zeitalter zu leben, in dem viele Menschen ihr Leben nicht oder jedenfalls nicht mehr ausschließlich auf Gott ausrichten?

Das ist die Säkularisierung, und egal, wie man es nennt, die Welt ist erwachsen geworden. Die Menschen sind überzeugt, Gott, die Idee von Gott, nicht mehr zu benötigen. In meinen Augen ist das ein großer Irrtum. Wer heute sagt, er glaube an Gott, der wird von vielen als ignorant oder unwissend betrachtet. Wir wenden uns aber an Gott, weil wir erkennen, dass all die Wissenschaften und Technologien für sich nicht ausreichen, um die Welt zu verstehen.

Eher gehe ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel gelange, lautet ein bekanntes und oft zitiertes Jesus-Wort. Wie lautet Ihre Interpretation?

Was Jesus damit sagen will, ist, dass auch Reichtum letztlich immer eine Sache des Herzens ist. Es ist nicht das Kapital an sich, das zum Nadelöhr wird. Sondern der Mensch, der es zum Hindernis für sein Heil macht.

Das Interview wurde im Rahmen des Pfingstdialogs "Geist und Gegenwart" gemeinsam mit Stefan Winkler von der "Kleinen Zeitung" geführt.