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Gott, Geld und Lügen in Brasilien

Von WZ-Korrespondent Philipp Lichterbeck

Politik

Jair Bolsonaro gegen Lula da Silva: Der Wahlkampf zwischen zwei politischen Alphatieren hat begonnen. Für Präsident Bolsonaro stehen die Chancen schlecht, wiedergewählt zu werden.


Fast jeden Morgen, wenn er aus seiner Residenz kommt, lässt Jair Bolsonaro seine Wagenkolonne anhalten. Der brasilianische Präsident gesellt sich dann zu Anhängern, die auf ihn gewartet haben, um ihr Idol zu treffen und Selfies mit ihm zu machen.

An diesem Morgen aber ist ein junger Mann erschienen, der einen YouTube-Kanal mit einigen tausend Abonnenten hat. Mit gezücktem Handy will er von Bolsonaro wissen, warum dieser sich mit dem Centrao eingelassen habe, dem Block der brasilianischen Zentrumsparteien. Diese gelten als besonders korrupt, aber ohne sie kann man Brasilien kaum regieren: Sie stellen mehr als die Hälfte der Parlamentsabgeordneten. Zunächst ignoriert Bolsonaro den YouTuber und steigt wieder in seinen Wagen ein. Als der junge Mann ihm aber "Flittchen des Centrao" nachruft, erscheint Bolsonaro wieder, packt ihn am Arm und versucht, ihm sein Handy zu entreißen.

Die Szene ereignete sich vor einigen Tagen, wurde in den brasilianischen Abendnachrichten gezeigt und lässt darauf schließen, dass Bolsonaros Nerven blank liegen. Am 2. Oktober finden Präsidentschaftswahlen statt, und in allen Umfragen liegt der Amtsinhaber hinter seinem Herausforderer, Ex-Präsident Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei (PT). Dessen Vorsprung beträgt je nach Erhebung zwischen zwölf und 18 Prozent; schon wird spekuliert, ob Lula bereits im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt wird. Dazu bräuchte er mindestens 50 Prozent der Stimmen.

Versagen bei der Pandemie

Für Bolsonaro muss das unbegreiflich sein. Er hatte die Wahlen 2018 haushoch mit dem Versprechen gewonnen, das Land von der Korruption zu befreien. Diese war den Brasilianern durch den riesigen Skandal rund um die Erdölgesellschaft Petrobras vor Augen geführt worden. Gleichzeitig hatte Bolsonaro einen Kulturkampf angekündigt. Er wolle die Nation vom Sozialismus, von der Gender-Ideologie und linken Indoktrination an den Schulen befreien, die allesamt von der PT eingeführt worden seien, die zwischen 2003 und 2016 regiert hatte. Eine pragmatische Regierung voller Experten werde er führen. Viele Brasilianer wollten das glauben.

Dann aber zeigten Bolsonaro und sein Team nicht Expertentum, sondern Ressentiments, Inkompetenz und Wissenschaftsfeindlichkeit. Als 2019 verheerende Brände den Amazonas heimsuchten, leugnete Bolsonaro sie zunächst, unterstellte dann die Manipulation von Satellitenbildern, beschuldigte schließlich Umweltschützer der Brandstiftung, weil die ihm schaden wollten. Am Ende verteidigte er die wirklichen Kriminellen als hart arbeitende Patrioten: Viehzüchter, Sojabauern, Landräuber, illegale Holzfäller. Über der Umweltkatastrophe nahm das Verhältnis zur EU, drittwichtigster Handelspartner Brasiliens, schweren Schaden.

Um wenigstens den Anschein zu erwecken, er tue etwas, entsandte Bolsonaro Militärs in den Amazonas, die keine Erfahrung bei der Bekämpfung von Umweltverbrechen hatten. Den Umweltbehörden mit Erfahrung strich er hingegen Mittel, Personal und Kompetenzen. Die Abholzung des Regenwalds hat seitdem jedes Jahr neue Rekorde erreicht.

Das Vorgehen kann als exemplarisch gelten. Auch bei Bildung, Wissenschaft, Kunst und dem Schutz der Indigenen ließ Bolsonaro Geld streichen und Ämter neu besetzen - alles Bereiche, die für ihn "links unterwandert" waren. Bolsonaro, selbst Hauptmann der Reserve, hat zahlreiche Generäle zu Ministern gemacht und den Regierungsapparat mit tausenden Militärs geflutet.

Die Konsequenzen bekamen die Brasilianer in der Corona-Pandemie zu spüren, als ein völlig überforderter Armeegeneral an der Spitze des Gesundheitsressorts dabei versagte, Kliniken mit Sauerstoff zu versorgen. Die Regierung versäumte es auch, frühzeitig Impfstoffe zu bestellen, die ihr angeboten worden waren. Bolsonaro bewarb stattdessen das Malaria-Medikament Chloroquin. Fast 700.000 Brasilianer sind an Covid-19 gestorben, viele davon, weil Bolsonaro die Versuche zur Eindämmung der Pandemie regelrecht sabotierte - so hat es ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss festgestellt.

Der Hauptgrund aber, warum Brasiliens nächster Präsident wahrscheinlich nicht Bolsonaro sondern Lula heißen wird, ist die wirtschaftliche Lage. Die Folgen der Pandemie und der Inflation haben Brasilien so hart getroffen, dass der Hunger laut UNO zurückgekehrt ist. 61 Millionen der 210 Millionen Brasilianer hätten Schwierigkeiten, sich ausreichend zu ernähren; 15 Millionen Menschen litten unter Hunger.

Drohen mit dem Militär

Um das Blatt doch noch zu wenden, setzt Bolsonaro auf Geld, Gott und Lügen. Seine Regierung verteilt großzügige Hilfen an Arme und Interessengruppen wie die Lkw-Fahrer. Diese laufen allerdings Ende des Jahres aus. Oft bezeichnet Bolsonaro die Wahl auch als "Kampf zwischen Gut und Böse". Er stehe für Gott, die traditionelle Familie und die Nation; Lula hingegen sei ein Schnapstrinker, Dieb und Lügner. Bolsonaros Frau, eine evangelikale Christin, behauptet sogar, dass mit Lula der Dämon in den Präsidentenpalast eingezogen sei. Lula, heute 76 Jahre alt, hat Brasilien zwischen 2003 und 2011 regiert.

Gern sagt Bolsonaro auch, dass es in seiner Regierung keine Korruption gab. Im Gesundheits- und im Bildungsressort gab aber sehr wohl Korruptionsfälle, vielfach wurde Nepotismus bekannt, und gegen einen Sohn Bolsonaros, der Senator ist, wird ermittelt.

Die Niederlage vor Augen, streut Bolsonaro nun das Gerücht, dass das Wahlsystem manipulierbar sei. Käme es zu Wahlbetrug, müsse das Militär eingreifen. Gegen diese offene Drohung mit einem Putsch hat sich bereits breiter Widerstand in Brasiliens Zivilgesellschaft formiert. Es ist kaum anzunehmen, dass die Militärs sich auf ein solches Abenteuer einlassen werden.

Herausforderer Lula da Silva hat unterdessen fast schon leichtes Spiel. Er setzt auf Nostalgie und ruft in Erinnerung, wie glücklich die Brasilianer angeblich in seiner Regierungszeit gewesen seien, wie voll die Einkaufskörbe und Benzintanks. Vergessen scheint die Verstrickung der Arbeiterpartei in den Petrobras-Skandal und die Gefängnisstrafe, zu der Lula 2018 verurteilt wurde, bevor er 2019 aufgrund von Verfahrensfehlern und Voreingenommenheit des Richters wieder freikam. Vor dem Hintergrund des bolsonaristischen Fiaskos möchten viele Brasilianer dennoch gerne an bessere Zeiten glauben. Sollte Lula die Wahl gewinnen, begänne die tatsächliche Herausforderung erst.